Überlieferung und Bedeutung der Inkommensurabilität

 Wie oben erwähnt ist die Entdeckung der Inkommensurabilität am Pentagramm eine spekulative Rekonstruktion. Die Alternative ist, dass sie am Quadrat entdeckt worden ist, entweder geometrisch wie oben oder durch das gerade-ungerade Argument, das sich dann bei Euklid findet. Zur Entdeckung der Inkommensurabilität schreibt Kurt von Fritz 1954:

von Fritz (1954):

  „The discovery of incommensurability is one of the most amazing and far-reaching accomplishments of early Greek mathematics. It is all the more amazing because, according to ancient tradition, the discovery was made at a time when Greek mathematical science was still in its infancy and apparently concerned with the most elementary … problems, while at the same time, as recent discoveries have shown, the Egyptians and Babylonians had already elaborated very highly developed and complicated methods for the solution of mathematical problems of a higher order, and yet, as far as we can see, never even suspected the existence of the problem…

 … It is the purpose of this paper to prove: 1) that the early Greek tradition which places the second stage of the development of the theory of incommensurability in the last quarter of the 5th century, and therefore implies that the first discovery itself was made still earlier is of such a nature that its authenticity can hardly be doubted…

 … the tradition concerning the first discovery itself has been preserved only in the works of very late authors, and is frequently connected with stories of obviously legendary character. But the tradition is unanimous in attributing the discovery to a Pythagorean philosopher by the name of Hippasus of Metapontum…

 According to Iamblichus’ Life of Pythagoras, Hippasus had an important part in the political disturbances in which the Pythagorean order became involved in the second quarter of the 5th century, and which ended in the revolt of ca 445, which put an end to Pythagorean domination in southern Italy. This agrees perfectly with the tradition which places him in the generation before Theodorus, who, as shown above, was born between 470 and 460.

… The discovery of incommensurability must have made an enormous impression in Pythagorean circles because it destroyed with one stroke the belief that everything could be expressed in integers, on which the whole Pythagorean philosophy up to then had been based. This impression is clearly reflected in those legends which say that Hippasus was punished by the gods for having made public his terrible discovery.“

 Der Artikel von Kurt von Fritz ist mittlerweile selbst ein Klassiker. Helmuth Gericke fasst 1984 die Situation zusammen:

Gericke (1984):

  „Dafür, dass Hippasos den Beweis am Fünfeck geführt haben könnte, sprechen die Argumente:

1) Es ist überliefert, dass Hippasos sich mit dem regelmäßigen Dodekaeder beschäftigt hat, dessen Seitenflächen bekanntlich Fünfecke sind.

2) Das Fünfeck bzw. das Pentagramm war das Erkennungszeichen der Pythagoreer; das wäre ein Motiv dafür, sich mit der Figur besonders gründlich zu beschäftigen.

3) Für einen geometrischen Satz wird man zuerst nach einem geometrischen Beweis suchen, nicht nach einem zahlentheoretischen.

 Dagegen spricht, dass der [ arithmetische ] Beweis am Quadrat überliefert ist [ bei Euklid ], der am Fünfeck nicht.“

 Die Entdeckung der Inkommensurabilität darf aus heutiger Sicht als das zentrale Ereignis in der Geschichte der reellen Zahlen gelten. Die Bedeutung der Entdeckung für ihre Zeit ist Gegenstand der historischen Diskussion, insbesondere die Einstufung als „Grundlagenkrise“ wird befürwortet wie auch kritisiert (vgl. [ Tannery 1887 ], [ Hasse/Scholz 1928 ], [ Becker 1933 ], [ Freudenthal 1966 ], [ Gericke 1970 ], [ Knorr 2001 ]). Sicher hat sie das „Weltbild der Pythagoreer“ als unhaltbar erwiesen und als einer plötzlichen Erkenntnis, dass gewisse wichtige Dinge sich in Wahrheit ganz anders verhalten als bislang angenommen, darf man der Entdeckung der inkommensurablen Verhältnisse eine Schockwirkung zusprechen. Die reellen Zahlen sind viel komplizierter als angenommen. Dieses Thema sollte sich dann im Lauf der Geschichte noch mehrfach wiederholen.

 Platon rechnete dann bereits das Wissen um die Irrationalität zur Allgemeinbildung, und äußert sich in ungewöhnlichen Worten über das eigene und allgemeine Unwissen hierüber. Das Motto zu Beginn dieses Buches findet sich in Platons „Gesetzen“ innerhalb der Diskussion der Lehrmethoden der Ägypter:

Platon (Gesetze, § 819f):

„Der Athener: Sodann befreien sie [ die Lehrer ] bei den Messungen von allem, was Länge und Fläche und räumliche Ausdehnung besitzt, von einer lächerlichen und schimpflichen Unwissenheit, welche diesbezüglich allen Menschen von Natur innewohnt.

Kleinias: Welche und was für eine meinst du denn damit?

Der Athener: Mein lieber Kleinias, auch ich selbst habe erst ganz spät von unserer Einstellung zu diesen Dingen gehört und mich darüber gewundert, und sie schien mir nicht die von Menschen, sondern eher die einer Herde von Schweinen zu sein, und ich habe mich nicht bloß für mich selbst geschämt, sondern auch für alle Hellenen.

Kleinias: Weshalb denn? So sag doch, was du meinst, Fremder.

Der Athener: So sag ich’s denn oder vielmehr, ich will es dir durch Fragen klarmachen. Antworte mir kurz: du weißt doch, was eine Strecke ist? … Und weiter: was eine Fläche? … Und doch auch, dass das zweierlei ist, das dritte davon aber die räumliche Ausdehnung.

Kleinias: Sicher.

Der Athener: Meinst du nun nicht, dass das alles gegeneinander messbar ist?

Kleinias: Ja.

Der Athener: Dass also Strecke gegen Strecke, denke ich, Fläche gegen Fläche und ebenso der Rauminhalt sich ganz natürlich messen lässt.

Kleinias: Vollkommen.

Der Athener: Wenn sich aber einiges weder ‘vollkommen’ noch annähernd gegeneinander messen lässt, sondern das eine wohl, das andere aber nicht, du es jedoch von allen annimmst, wie, meinst du, mag es da in dieser Beziehung um dich stehen?

Kleinias: Offenbar schlecht.

Der Athener: Wie ist es nun mit dem Verhältnis von Strecke und Fläche zum Rauminhalt oder von Fläche und Strecke zueinander? Sind wir Hellenen hierüber nicht allesamt der Ansicht, dass sich das irgendwie gegeneinander messen lässt?

Kleinias: Ganz gewiss.

Der Athener: Wenn das aber keinesfalls irgendwie möglich ist, wir Hellenen aber, wie gesagt, es uns alle als möglich vorstellen, muss man sich da nicht für alle schämen und zu ihnen sagen: ‚Ihr besten aller Hellenen, ist dies nicht einer von den Gegenständen, von denen wir gesagt haben, sie nicht zu wissen sei schimpflich, während das Notwendige zu wissen noch nichts besonders Rühmliches sei?‘

Kleinias: Ohne Zweifel.

Der Athener: Außerdem gibt es noch andere diesen verwandte Probleme, bei denen viele Irrtümer in uns entstehen, die mit jenen Irrtümern verschwistert sind.

Kleinias: Welche Probleme denn?

Der Athener: Auf welchem Naturgesetz die gegenseitige Messbarkeit und Nichtmessbarkeit beruht. Denn das muss man prüfen und unterscheiden, oder man bleibt ein ganz armseliger Tropf. Diese Probleme muss man sich stets gegenseitig vorlegen und so einem Zeitvertreib huldigen, der für Greise weit reizvoller als das Brettspiel ist, und man muss allen Eifer in den Mußestunden an den Tag legen, die man diesen Fragen zu widmen hat.“

 In ihren Mußestunden wiesen die Griechen dann auch die Irrationalität von Quadratwurzeln nach. Platon erwähnt einige Spezialfälle in seinem 399 v. Chr. spielenden Dialog Theaitetos, und er schreibt deren Beweise dem Theodoros von Kyrene, einem seiner Lehrer, zu. Die Stelle, um 368 v. Chr. geschrieben, ist das früheste Dokument in der Geschichte der irrationalen Zahlen. Danach kommen bereits die entsprechenden Kapitel in den „Elementen“ des Euklid. Die Hippasos-Überlieferung beginnt erst viel später.

Platon (Theaitetos, § 147): 

 „Theaitetos: Von den Seiten der Vierecke zeichnete uns Theodoros etwas vor, indem er uns von der des dreifüßigen und fünffüßigen bewies, dass sie als Länge nicht messbar wären durch die einfüßige. Und so ging er jede einzeln durch bis zur [ einschließlich? ] siebzehnfüßigen, bei dieser hielt er inne…“

 Man darf der Stelle entnehmen, dass die Irrationalität der Wurzel aus 2 bereits bekannt war. Sonst gibt es keinen Grund, bei 3 anzufangen. Theodoros erweiterte ein bekanntes Resultat. Theaitetos selbst gelang dann später der allgemeine Beweis der Irrationalität von n für alle natürlichen Zahlen n ≥ 2, die keine Quadratzahlen sind.

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 Die Figur rechts gibt eine mögliche Erklärung dafür, warum Theodorus bei 17 aufgehört hat. Wir starten mit einem Quadrat der Seitenlänge 1, und bilden rechte Winkel an den Diagonalen. Die so entstehenden Dreiecke haben eine Diagonale der Länge n für n = 2, 3, …, 17. Ohne Überlappung ist diese Konstruktion genau 16 mal möglich. Die letzte Diagonale hat die Länge 17. Diese Deutung stammt von [ Anderhub, 1941 ]. Für eine Analyse von „bis zur siebzehnfüßigen“, die sich mehr mit den möglichen Beweisen für die fraglichen Wurzeln beschäftigt, vgl. [ Hardy/Wright 1979, 4.5 ].

 Zeitlich ergibt sich etwa folgendes Bild der Ereignisse:

um 500 v. Chr.  Zahlenmystik bei den Pythagoreern.
um 450 v. Chr.  Hippasos: Inkommensurable Verhältnisse im Pentagramm. Möglicherweise zu dieser Zeit auch Beweis der Irrationalität der Wurzel aus 2.
um 400 v. Chr.  Theodoros: Irrationalität der Wurzeln aus 3, …, 15, und (?) 17.
um 370 v. Chr.  Theaitetos: Irrationalität aller fraglichen Wurzeln.
um 300 v. Chr.  Euklid: Im (möglicherweise auf Theaitetos zurückgehenden) X. Buch der „Elemente“ findet sich eine umfassende Diskussion der Inkommensurabilität und ihres Zusammenhangs mit dem Euklidischen Algorithmus.

 Die Antike hat auf die Entdeckung der irrationalen Verhältnisse nicht nur irritiert, sondern auch produktiv reagiert. An erster Stelle zu nennen ist hier die etwa 370 v. Chr. entwickelte Proportionslehre des Eudoxos, die sich im fünften Buch bei Euklid findet.

 Die Entdeckung der Inkommensurabilität wirft unter anderem folgendes Problem auf: Bei der Untersuchung von Verhältnissen a/b, wo a und b nun beliebige geometrische Größen sind, genügt eine Theorie nicht mehr, die nur die natürlichen Zahlen kennt. Kann man noch hinnehmen, dass viele Seitenlängen, die in der Geometrie auftauchen, nicht als Paare von natürlichen Zahlen repräsentiert werden können, so wird spätestens beim weiteren Rechnen mit mehreren dieser Größen die alte Theorie unbrauchbar. Viele Beweise für geometrische Sätze ruhten sogar auf Kommensurabilitätsannahmen (etwa ein Beweis des Strahlensatzes). Eudoxos von Knidos findet die erste die Griechen befriedigende Lösung. Sie fällt unter das Stichwort der „relationalen Definition“. Eudoxos definiert nicht, was eine reelle Zahl a oder ein Verhältnis a/b von reellen Zahlen (Streckenlängen) sein soll, sondern er definiert: Zwei Verhältnisse a/b und c/d sind gleich, falls für alle natürlichen Zahlen n und m eine der folgenden Aussagen gilt:

(1)  na  <  mb  und  nc  <  md.

(2)  na  =  mb  und  nc  =  md.

(3)  na  >  mb  und  nc  >  md.

Euklid (um 300 v. Chr):

„[ V. Buch, Definition 5 ] Man sagt, dass [ vier ] Größen [ a, b, c, d ] in demselben Verhältnis stehen, die erste zur zweiten wie die dritte zur vierten, wenn bei beliebiger Vervielfältigung die Gleichvielfachen der ersten und dritten [ na und nc ] den Gleichvielfachen der zweiten und vierten [ mb und md ] gegenüber, paarweise entsprechend genommen, entweder zugleich größer oder zugleich gleich oder zugleich kleiner sind.“

 Eine andere nahe liegende Definition von „gleiches Verhältnis“ wäre: a und b verhalten sich wie c und d, falls die beiden Folgen der Vielfachheitskoeffizienten, die der Euklidische Algorithmus liefert, übereinstimmen, d. h. a, b und c, d haben die gleiche Wechselwegnahme, sie führen zu den gleichen Kettenbrüchen. Die Stellung dieser Definition, die insbesondere bei Aristoteles erwähnt wird, hat O. Becker in seinen Eudoxos-Studien untersucht. Unter dieser Definition wirft die Implikation „a/b = c/d folgt a/c = b/d“ Schwierigkeiten auf (es gibt keine einfache Regel zur Multiplikation von Zahlen in Kettenbruchdarstellung). Die Problematik führte Eudoxos möglicherweise dazu, nach einer anderen Definition zu suchen. (Siehe hierzu [ Becker 1933 ] und [ Gericke 1970 ].)

 Die Ausdrücke in (1) − (3) haben eine klare geometrische Bedeutung, da geometrische Größen leicht n-mal hintereinander abgetragen werden können. Diese Definition löst nun das Rechenproblem mit beliebigen Größen: Der Nachweis von a/b = c/d verläuft durch eine dreiteilige Fallunterscheidung. Aus der Annahme von na < mb zeigt man nc < md, aus der Annahme von na = mb zeigt man nc = md, und aus der Annahme von na > mb zeigt man nc > md.

 Zeigt man mit Hilfe der Definition des Eudoxos, dass aus a/c = b/c folgt, dass a = b gilt, so sieht man, dass das (seit O. Stolz 1880) sog. „Archimedische Axiom“ verwendet werden muss: Für alle a/b existiert ein n mit na > b. Dieses Prinzip, das geometrisch sofort einleuchtet, muss also bereits dem Eudoxos vor Augen gestanden haben. (Der Leser verwende zum Beweis der Behauptung „a/c = b/c folgt a = b“ im Sinne von Eudoxos nur Multiplikationen zweier Größen, bei denen mindestens ein Faktor eine natürliche Zahl ist; nur solche Multiplikationen haben eine offensichtliche geometrische Bedeutung als Streckenlänge.) Die Implikation „a/c = b/c folgt a = b“ hält auch Euklid explizit fest (Buch V, § 9).

 Von der Definition des Eudoxos führt eine Brücke in die moderne Mathematik: Für alle Testgrößen n, m ist offenbar eine der drei Annahmen für a/b richtig. Damit teilt a/b die rationalen Zahlen m/n in drei Mengen

R = { m/n | na < mb },  M = { m/n | na = mb },  L = { m/n | na > mb }.

Damit ist man von der Definition einer reellen Zahl als Dedekindscher Schnitt nur noch einen Schritt weit entfernt: Man stellt derartige „Schnitte“ L, M, R von  an die Spitze der Überlegung und definiert eine reelle Zahl schlichtweg als eine solche Zerlegung. (Dieser „eine Schritt“ ist nur aus heutiger Sicht klein.) Eine der ersten genauen Konstruktionen der reellen Zahlen aus dem 19.  Jahrhundert kann somit als die Fortführung einer mehr als zwei Jahrtausende früher formulierten Idee angesehen werden.