Vollständigkeit und Lücken

 Sei 〈 M, < 〉 eine lineare Ordnung, und seien X ⊆ M, s  ∈  M. Wir schreiben X ≤ s, falls x ≤ s für alle x  ∈  X gilt. Analog sind X < s, s ≤ X und s < X definiert.

 Ein s  ∈  M heißt eine obere Schranke von X (bzgl. <), falls X ≤ s. s  ∈  M heißt Supremum von X, in Zeichen s = sup(X), falls gilt: X ≤ s, und für alle s′  ∈  M mit X ≤ s′ gilt s ≤ s′. Analog sind untere Schranken und Infima s = inf (X) definiert. Suprema und Infima sind im Falle der Existenz eindeutig bestimmt.

 Ein X ⊆ M heißt nach oben (nach unten) beschränkt, falls ein s  ∈  M existiert mit X ≤ s (s ≤ X). X heißt beschränkt, falls X nach oben und unten beschränkt ist.

Definition (vollständige lineare Ordnungen)

Eine lineare Ordnung 〈 M, < 〉 heißt vollständig, falls jede nichtleere nach oben beschränkte Teilmenge X von M ein Supremum besitzt.

Übung

In einer vollständigen linearen Ordnung besitzt jede nach unten beschränkte nichtleere Teilmenge ein Infimum.

 Eine lokale Analyse der Vollständigkeit ermöglicht der Begriff eines Schnitts und einer Lücke:

Definition (Dedekindscher Schnitt, Lücken in linearen Ordnungen)

Ein (Dedekindscher) Schnitt in einer linearen Ordnung 〈 M, < 〉 ist ein Paar (L, R), L, R ⊆ M, mit den Eigenschaften:

(i)

L, R  ≠  ∅,  L  ∩  R  =  ∅,  L  ∪  R  =  M,

(ii)

für alle x  ∈  L, y  ∈  R gilt x < y,

(iii)

sup(L)  ∈  L, falls sup(L) existiert.

Ein Schnitt (L, R) heißt eine Lücke von 〈 M, < 〉, falls sup(L) nicht existiert.

 Der Leser, der einer Sammelleidenschaft nachgeht, weiß, dass „vollständig“ und „keine Lücken“ gleichwertig sind. Das gilt auch für die Mathematik:

Übung

Sei 〈 M, < 〉 eine lineare Ordnung. Dann sind äquivalent:

(i)

〈 M, < 〉 ist vollständig.

(ii)

〈 M, < 〉 hat keine Lücken.

 Nicht besonders überraschend ist, dass Ordnungsisomorphismen Suprema erhalten und damit Lücken in Lücken übersetzen.

Satz (Lücken ähnlicher Ordnungen)

Seien 〈 M, < 〉 und 〈 N, < 〉 ordnungsisomorphe lineare Ordnungen, und sei f : M  N ein Ordnungsisomorphismus.

(i)

Ist X ⊆ M und ist x = sup(X) in M, so ist f (x) = sup(f″X) in N.

Analog folgt aus x = inf (X) in M, dass f (x) = inf (f″X) in N.

(ii)

Ist (L, R) eine Lücke in 〈 M, < 〉, und sind L′ = f″L, R′ = f″R, so ist (L′, R′) eine Lücke in 〈 N, < 〉.

(iii)

〈 M, < 〉 hat eine Lücke  gdw〈 N, < 〉 hat eine Lücke.

 Der einfache Beweis sei dem Leser zur Übung überlassen.

 Aus diesen ordnungsliebenden Überlegungen gewinnen wir nun die Existenz irrationaler Zahlen − ganz ohne Arithmetik! − und weiter einen neuen Beweis für die Überabzählbarkeit der reellen Zahlen:

Satz (Existenz von Lücken in ; neuer Beweis der Überabzählbarkeit von )

Ist A ⊆  abzählbar, und gilt  ⊆ A, so hat 〈 A, < 〉 Lücken.

Insbesondere ist  überabzählbar.

Beweis

Wegen  ⊆ A ist 〈 A, < 〉 unbeschränkt und dicht, also 〈 A, < 〉 ≡  〈 , < 〉.

Es genügt also nach dem Satz oben zu zeigen, dass  Lücken hat.

Dies ist trivial richtig, wenn man voraussetzt, dass irrationale Zahlen existieren, denn die irrationalen Zahlen sind genau die Lücken von . Wir können aber ohne Rückgriff auf die Pythagoreer auch den Charakterisierungssatz von Cantor verwenden:

Sei ′ =  − { 0 } , und seien L = { q  ∈   | q < 0 } , R = { q  ∈   | 0 < q }.

Dann ist L, R eine Lücke in 〈 ′, < 〉. Aber 〈 ′, < 〉 ist abzählbar, unbeschränkt und dicht, also 〈 ′, < 〉 ≡  〈 , < 〉. Also hat auch 〈 , < 〉 Lücken.

Der „insbesondere“ Teil folgt aus dem ersten, da 〈 , < 〉 vollständig ist.

 Eine vollständige dichte Ordnung ist damit notwendig überabzählbar.