Zur Geschichte des Kontinuumsbegriffs

Ein Kontinuum aus Atomen?

 Seit der Antike hat Philosophen wie Mathematiker das Problem beschäftigt, ob ein „Kontinuum“ − ein „Zusammenhängendes“ − aus Atomen, aus Punkten, bestehen könne oder nicht. Die Diskussion ist oft auch mit der Frage nach der Unendlichkeit verknüpft.

 Aristoteles definiert die Bedeutung des Begriffs ‚zusammenhängend‘ (für zwei Gegenstände) wie folgt:

Aristoteles (Physik, Buch V, § 226 f. ):

„Danach wollen wir vortragen, was ‚beisammen‘ bedeutet und ‚getrennt‘, und was ‚berühren‘, was ‚inmitten‘, was ‚in Reihe folgend‘, was ‚anschließend‘, und ‚zusammenhängend‘, und (schließlich) welchen Gegenständen ein jedes davon seiner Natur nach eignet…

 ‚Zusammenhängend‘ ist einerseits ein besonderer Fall von ‚anschließend‘, ich sage aber dagegen, ‚zusammenhängend‘ liege dann vor, wenn die Grenze beider, da wo sie sich berühren, eine und dieselbe geworden ist und, wie der Name ja schon sagt, zusammengehalten wird. Dies kann es aber solange nicht geben, wie die beiden Ränder zwei sind. − Nachdem dies bestimmt festgelegt ist, ist klar, dass es Zusammenhang nur bei solchen Gegenständen geben kann, aus denen auf Grund von Zusammenfügung ein Eines werden kann; und so wie das zusammenhaltende (Teilstück) eines wird, genau so wird das Ganze eines sein, z. B. durch Nagel, Leim, Gelenkverbindung, Anwachsen.“

 Die Teile L und R des Dedekindschen Schnitts (L, R) von  mit L = { q  ∈   | q2 < 2 oder q < 0 } berühren sich in diesem Sinne, hängen aber nicht zusammen. Eine zusammenhängende Linie erlaubt eine solche Teilung nicht. Erst in  sind L und R durch die gemeinsame Grenze 2 = (L, R) miteinander „verleimt“. Diese Sicht scheint von einer unerschrocken modernen Warte aus sehr vertraut, aber Aristoteles hat es gerade aus seinem Zusammenhangs-Verständnis heraus abgelehnt, dass ein Kontinuum aus Atomen, eine stetige Linie aus Punkten bestehen könne. Die in der Geschichte des Kontinuumsbegriffs immer wieder aufgegriffene Passage lautet:

Aristoteles (Physik, Buch VI, Anfang):

„… ‚Zusammenhängend‘ [ nannten wir solche Dinge ] deren Ränder eine Einheit bilden… −: dann ist es unmöglich, dass aus unteilbaren (Bestandteilen) etwas Zusammenhängendes bestehen könnte, etwa eine Linie aus Punkten, − wenn doch Linie ein Zusammenhängendes ist, Punkt ein Unteilbares; weder bilden doch eine Einheit die Ränder von Punkten − es gibt ja gar nicht hier ‚Rand‘, dort ‚sonstigen Teil‘ von einem Unteilbaren −, noch können die Ränder beisammen sein − es gibt ja eben nichts (nach der Art von) Rand an einem Teillosen: dann wäre nämlich schon verschieden voneinander Rand und das, dessen Rand er ist.“

 Dass aus einzelnen Punkten ein mathematisches Kontinuum entstehen kann, ist uns heute fast selbstverständlich geworden, aber der Gedanke erscheint kühn, wenn wir uns die Konsequenzen vor Augen halten: Dass ein vollständiges, stetiges Kontinuum notwendig aus überabzählbar vielen Atomen aufgebaut ist, und wir nicht einmal wissen, aus wie vielen (Unabhängigkeit der Kontinuumshypothese); und dass viele Atome der Länge 0 zusammen eine Strecke vom Maß 1 ergeben können; und dass „f (x) = (x, x)“ das Einheitsintervall auf die Diagonale des Einheitsquadrats abbildet, stetig, „Atom für Atom“, und dennoch die Diagonale länger als 1 ist; und dass es nur abzählbar viele rationale Zahlen gibt, aber dennoch zwischen je zwei der überabzählbar vielen Punkte eines Kontinuums immer eine rationale Zahl gefunden werden kann. All diese Beobachtungen können zum Ausgangspunkt der Irritation werden; oft genügen schon abzählbar unendliche Mengen, um eine Verunsicherung und Verwirrung auszulösen, und hinzu kommt dann noch das Phänomen der Überabzählbarkeit. Ein Kontinuum aus Atomen aufzubauen ist und bleibt eine verwickelte Angelegenheit, auch wenn heute ein scheinbar einfaches arithmetisches Bild von  durch im Detail ausgefeilte und formal untadelige Konstruktionen entstanden ist: Diese beruhen auf einer umgebenden Mengenlehre und dem unverstandenden, nicht absoluten Übergang von  zu (). Unter diesem Blickwinkel ist der moderne Kontinuumsbegriff alles andere als einfach.

Geometrisierung der Algebra bei den Griechen

 Die Griechen haben mit der Proportionslehre des Eudoxos einen befriedigenden Weg gefunden, irrationale Verhältnisse in die Geometrie miteinzubeziehen und mit ihnen zu argumentieren. Sie haben aber Zahlen und geometrische Verhältnisse nicht miteinander identifiziert. Der Zahlbegriff wird nicht erweitert, die Griechen haben, modern ausgedrückt, die Arithmetisierung des Kontinuums nicht durchgeführt. Von Pythagoras bis Euklid wird streng zwischen Zahlen und Verhältnissen von geometrischen Größen unterschieden.

van der Waerden (1956):

„Warum haben die Griechen die babylonische Algebra nicht als solche übernommen, sondern geometrisch eingekleidet? War es die Freude am Anschaulichen und Sichtbaren, die sie dazu brachte, sich von den Zahlen abzuwenden und sich vorzugsweise mit Figuren zu befassen? … Und eben diese Zahlenanbeter [ die Pythagoreer ] sollten, aus purer Freude am Schauen, die quadratischen Gleichungen nicht durch Zahlen, sondern durch Strecken und Flächen gelöst haben? Es ist kaum zu glauben, es muss noch ein anderes Motiv für die Geometrisierung der Algebra gegeben haben.

 Dieses Motiv ist nicht schwer zu finden: es ist die Entdeckung des Irrationalen, die nach Pappos ja gerade in der Schule der Pythagoreer ihren Anfang nahm. Die Diagonale des Quadrats hat kein gemeinsames Maß mit der Seite. Das heißt aber: wenn die Seite als Längeneinheit gewählt wird, so lässt sich die Diagonale nicht messen; ihre Länge wird weder durch eine ganze Zahl noch durch einen Bruch ausgedrückt.

 Wir sagen heute, die Länge der Diagonale sei 2, und wir fühlen uns erhaben über die armen Griechen, die ‚keine irrationalen Zahlen kannten‘. Die Griechen kannten aber sehr wohl irrationale Verhältnisse… Wenn sie 2 keine Zahl nannten, so war das nicht Unkenntnis, sondern strenges Festhalten an der Definition der Zahl. Arithmos bedeutet Anzahl, also ganze Zahl. In ihrem logischen Rigorismus ließen sie nicht einmal Brüche zu, sondern ersetzten sie durch Verhältnisse von ganzen Zahlen.

 Für die Babylonier stellte jede Strecke und jede Fläche ohne weiteres eine Zahl dar… Konnten sie eine Quadratwurzel nicht exakt ausziehen, so begnügten sie sich mit einer Näherung. Die Ingenieure und Naturwissenschaftler haben es zu allen Zeiten genau so gemacht. Den Griechen aber war es um exaktes Wissen zu tun, um ‚die Diagonale selbst‘, wie Platon es ausdrückt, nicht um eine brauchbare Näherung.

 Im Bereich der Zahlen … ist x2 = 2 nicht exakt lösbar. Im Bereich der Strecken … ist die Diagonale des Einheitsquadrats eine Lösung. Also muss man, wenn man quadratische Gleichungen exakt lösen will, aus dem Bereich der Zahlen in den Bereich der geometrischen Größen hinübertreten. Die geometrische Algebra gilt auch für irrationale Strecken und ist trotzdem eine exakte Wissenschaft. Ein logischer Zwang ist es also, der die Pythagoreer nötigte, ihre Algebra ins Geometrische zu übersetzen, nicht nur die Freude am Anschaulichen.“

 Erst viel später wird der strenge Zahlbegriff aufgegeben und die Frage erörtert, was eine Zahl ist bzw. was noch alles als Zahl gelten darf und soll. Das erfolgreiche konkrete und später algebraisch-abstrakte Rechnen drängt im Laufe einer langen Entwicklung sanft insistierend zu einer Erweiterung des Zahlbegriffs. Zahl ist nicht mehr nur ganze Zahl, Zahl ist, womit gerechnet werden kann. Die Approximierbarkeit durch „wirkliche Zahlen“ wird dabei oft stillschweigend vorausgesetzt. All dies unterstützt die Entstehung des modernen atomaren arithmetischen Kontinuums: Ein Kontinuum besteht aus  und allen „Zahlen“, die man mit  approximativ beschreiben kann. Die geometrischen Größen entsprechen dann genau den reellen Zahlgrößen, nicht mehr und nicht weniger. Der Weg bis zur heutigen Struktur  ist lange und verläuft über Jahrhunderte des Rechnens mit reellen Zahlen. Er kulminiert in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den heute oft als klassisch bezeichneten Konstruktionen.

 Welche Gründe man auch immer dafür angeben mag: Bei den Griechen existiert kein arithmetisches Kontinuum und auch kein Bedürfnis danach. Das geometrische Kontinuum, die zusammenhängende Strecke, ist anschaulich gegeben. Euklid beginnt seine „Elemente“ mit den Beschreibungen: „1. Ein Punkt ist, was keine Teile hat. 2. Eine Linie [ ist ] breitenlose Länge. 3. Die Enden einer Linie sind Punkte. 4. Eine gerade Linie (Strecke) ist eine solche, die zu den Punkten auf ihr gleichmäßig liegt.“ Diese Sätze sind Eingrenzungen von Gegenständen, die beim Leser als bekannt vorausgesetzt werden. Strecken und Punkte begegnen uns in geometrischen Figuren, daher kennen wir sie. Sie sind sichtbar vorhanden. Was das Wesen des „Zusammenhängenden“ ausmacht, ist Gegenstand der philosophischen Diskussion, aber für die mathematische Untersuchung von geometrischen Figuren und Streckenverhältnissen eher zweitrangig.

Mittelalter und frühe Neuzeit

 Die Entwicklung der Mathematik vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit lässt sich als langsame und vor allem zu Beginn unsichere Liberalisierung des strengen Zahlbegriffs der Griechen zusammen mit einer Algebraisierung der Geometrie lesen. Zunächst einmal muss das verlorene und zum Teil missachtete antike − und das heißt in diesem Fall griechische − mathematisch-naturwissenschaftliche Wissen erst wieder lebendig gemacht werden. Ende des 11. Jahrhunderts erobern die Christen Spanien von den Arabern zurück. Sie verzichten darauf, die Bibliotheken in Brand zu stecken und erhalten so Zugang zur hellenistischen Literatur in arabischen Übersetzungen. Adelard von Bath übersetzt um 1130 Euklid ins Lateinische: Er übersetzt aus dem Arabischen, vollständige Euklid-Übersetzungen aus erhaltenen griechischen Handschriften finden sich erst ab 1500. Adelard übersetzt auch Al-Khwarizmi (vgl. die Zeittafel nach Kapitel 1).

 Bis ins 13. Jahrhundert dominieren dann Euklid-Bearbeitungen und Kommentare. Die Gelehrten des Mittelalters reiben sich weiter an der Auffassung des Aristoteles über das Kontinuum. Thomas Bradwardinus verfasst im 14. Jahrhundert einen „Tractatus de continuo“, in dem die atomare Frage und die verschiedenen Meinungen hierüber diskutiert werden. Auch hier lautet die Schlussfolgerung, dass ein Kontinuum aus unendlich vielen Kontinua besteht, nicht aber aus Atomen. Gregor von Rimini folgt ebenfalls Aristoteles, greift aber in der Diskussion der Problematik den Unterschied zwischen Punkten und unendlich kleinen Indivisibilien mit Ausdehnung (magnitudo indivisibilis cum extensione) wieder auf; Indivisibilien mit Ausdehnung hatte Xenokrates im 4. Jahrhundert vor Chr. betrachtet und damit die Bewegungsparadoxien des Zenon untersucht. (Wir verweisen den Leser auf [ Maier 1949 ] für eine detailierte Darstellung der Kontinuumsdiskussion der Scholastik.)

 Daneben verläuft die Geschichte des praktischen Rechnens mit allen Bestandteilen: Suche nach guten Ziffern und arithmetischen Zeichen, Behandlung der Null und der negativen Zahlen, und natürlich Lösen praktischer Aufgaben samt Übungen hierzu. Bekannt wurde Adam Ries mit seinen Rechenbüchern, verfasst in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Zinseszinsprobleme führen auch zur Betrachtung kubischer Gleichungen, deren Lösungsformeln Scipione del Ferro 1515 findet.

 Bei Michael Stifel finden wir Mitte des 16. Jahrhunderts in den „Arithmetica integra“ immer noch eine Diskussion darüber, ob die irrationalen Zahlen wahre Zahlen sind oder bloße Erfindungen (Kapitel 1 hat z. B. die Überschrift „De essentia numerorum irrationalium“, die Behandlung des Themas ist nicht mathematisch, sondern scholastisch-dialektisch). Simon Stevin lässt dann um 1600 ganz eindeutig irrationale Zahlen zu, den kontinuierlichen Größen der Geometrie und Natur entsprechen kontinuierliche Zahlen. Bei René Descartes, John Wallis, Leibniz und Newton wird dann präzisiert, was eine kontinuierliche Zahl ist, nämlich das Verhältnis einer Strecke zu einer beliebig gewählten Einheitsstrecke. Den geometrischen Größen entsprechen nun Zahlen, geometrischen Konstruktionen entsprechen arithmetische Operationen. Allgemeiner gilt dies für beliebige Größen, etwa physikalische. Newton schreibt 1707 in den „Arithmetica universalis“: „Unter ‚Zahl‘ verstehen wir nicht sowohl Menge von Einheiten [ wie bei den alten Griechen] sondern vielmehr das abstrakte Verhältnis irgendeiner Größe zu einer anderen Größe derselben Gattung, die als Einheit angenommen wird. Sie ist von dreifacher Art: ganz, gebrochen und irrational; ganz, wenn die Einheit sie misst, gebrochen, wenn ein Teil der Einheit, dessen Vielfaches die Einheit ist, sie misst, irrational, wenn die Einheit mit ihr inkommensurabel ist.“ (zitiert nach [Gericke 1970]). Damit ist eine erste Stufe in der Arithmetisierung des Kontinuums durchgeführt. Sie mag inhaltlich mit ihrer klaren Dreiteilung in ganz, gebrochen rational und irrational nicht weit von den Erkenntnissen der Griechen entfernt zu sein scheinen. Zeitlich sind zweitausend Jahre vergangen.

 Auch Leibniz beschäftigt sich mit der „atomaren Frage“ und steht einem Kontinuum aus Punkten zumindest zeitweise eher skeptisch gegenüber. Philosophisch entwickelt er seine Theorie der Monaden. In Fortführung der Definition des Aristoteles beschreibt er ein Kontinuum als ein Ganzes, für das je zwei Teile, die zusammen genommen das Ganze ergeben, ein gemeinsames Stück oder eine gemeinsame Grenze aufweisen.

 Eine interne mathematische Definition von „reelle Zahl“ oder eine Strukturuntersuchung aller reellen Zahlen lag zur Zeit von Newton und Leibniz noch nicht vor. Eine solche sollte dann erst im 19. Jahrhundert gegeben werden, als ein Bedürfnis entstand, die Fundamente der Analysis freizulegen oder gegebenenfalls neu zu erklären.

Infinitesimale Größen

 Im 17. und 18. Jahrhundert spielen die infinitesimalen Größen bei der Entwicklung der Differential- und Integralrechnung eine wichtige Rolle. Vor allem der Leibnizsche dx/dy-Kalkül hat diese Größen in der Mathematik und den Naturwissenschaften populär gemacht. Erst das 19. Jahrhundert hat dann das Unendlichkleine durch eine klare Definition des Grenzwertes und eine arithmetische Konstruktion des Kontinuums in den Bereich der Heuristik verwiesen. Der Leibnizsche Kalkül ist dabei aber nie ersetzt worden und die suggestive Kraft der infinitesimalen Größen blieb speziell in der Physik durchgehend lebendig. Heute kann man sie nach den Arbeiten von Curt Schmieden, Detlef Laugwitz und Abraham Robinson in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als mathematische Objekte einführen, eine Analysis auf einem entsprechenden sog. hyperreellen Oberkörper von  begründen und dadurch uralte Rechenregeln wieder finden und rechtfertigen.

 Die Verwendung der infinitesimalen Größen ist früh kritisiert worden, bekannt geworden ist die Kritik von George Berkeley in seiner polemischen Schrift „The analyst. Or a discourse addressed to an infidel mathematician“ von 1734, die das Rechnen mit den unklaren dx-Größen als „religious mysterics“ einstuft. Unter den Mathematikern hatten in der Nachfolge von Leibniz vor allem die Brüder Jakob und Johann Bernoulli den neuen Kalkül verwendet und intensiven Gebrauch von infinitesimalen Größen gemacht. Im 18. Jahrhundert dominiert Leonhard Euler und auch er rechnet „infinitesimal“. Eine erste einflussreiche Gegenbewegung innerhalb der Mathematik ist dann die „Théorie des fonctions analytiques“ von Lagrange 1797 (deutsch 1823), die im Untertitel explizit fest hält „die Hauptsätze der Differential-Rechnung, ohne die Vorstellung vom Unendlich-Kleinen“ zu präsentieren.

 Die Haltung von Leibniz selber, der durch seine dx-Notation infinitesimale Größen scheinbar überall verwendet, ist komplex, über die Jahre hinweg nicht konstant, und bis heute umstritten. Öffentlich zieht er sich oft auf einen formalen Standpunkt zurück: Die dx-Notation ist eine bequeme Kurzfassung einer umständlicheren Argumentation, mit der die Resultate auch gewonnen werden könnten. Er vergleicht die infinitesimalen Größen mit den imaginären Zahlen der Algebraiker und betont ihren rechnerischen Gehalt gegenüber Streitereien über ihre Realität. Der Kalkül funktioniert. Er liefert neue Ergebnisse, die dann in jedem Einzelfall auch ohne Verwendung infinitesimaler Größen bewiesen werden könnten, indem „infinitesimal“ durch „beliebig klein“ ersetzt wird. In einem Brief an Pierre Varignon erklärt Leibniz seine Auffassung so ([ Leibniz 1996 ]):

Leibniz (1702):

„… meine Absicht war jedoch zu zeigen, dass man die mathematische Analysis von metaphysischen Streitigkeiten nicht abhängig zu machen braucht, also nicht zu behaupten braucht, dass es in der Natur Linien gibt, die, relativ zu unsern gewöhnlichen, in aller Strenge unendlich klein sind … Um daher diese subtilen Streitfragen zu vermeiden, begnügte ich mich, da ich meine Erwägungen allgemein verständlich machen wollte, das Unendliche durch das Unvergleichbare zu erklären, d. h. Größen anzunehmen, die unvergleichbar größer oder kleiner als die unsrigen sind. Auf diese Weise nämlich erhält man beliebig viele Grade unvergleichbarer Größen, sofern ein unvergleichlich viel kleineres Element, wenn es sich um die Feststellung eines unvergleichlich viel größeren handelt, bei der Rechnung außer Acht bleiben kann. So ist etwa ein Teilchen der magnetischen Materie, die das Gas durchdringt, einem Sandkorn, dieses wiederum der Erdkugel, die Erdkugel schließlich dem Firmament nicht vergleichbar. Daher habe ich früher in den ‚Acta Eruditorum‘ einige Hilfssätze für die Rechnung mit dem Unvergleichbaren aufgestellt, die man sowohl auf das Unendliche im strengen Sinne, wie auch auf Größen anwenden kann, die an anderen gemessen, nur nicht in Betracht kommen.

 Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die unvergleichlich kleinen Größen, selbst in ihrem populären Sinne genommen, keineswegs konstant und bestimmt sind, dass sie vielmehr, da man sie so klein annehmen kann, wie man nur will, in geometrischen Erwägungen dieselbe Rolle wie die Unendlichkleinen im strengen Sinne spielen. Will nämlich ein Gegner unseren Sätzen die Richtigkeit absprechen, so zeigt unser Kalkül, dass der Irrtum geringer ist als irgendeine angebbare Größe, da es in unserer Macht steht das Unvergleichbarkleine − das man ja immer so klein, als man nur will, annehmen kann − zu diesem Zwecke hinlänglich zu verringern. Dies dürfte es wohl sein, was Sie mit dem Unerschöpflichen meinen, und zweifellos liegt darin der strenge Beweis unserer Infinitesimalrechnung. Ihr Vorzug liegt darin, dass sie unmittelbar und augenscheinlich und in einer Art, die den eigentlichen Quell der Entdeckung frei legt, dasjenige gibt, was die Alten, so z. B. Archimedes, auf Umwegen vermittels des indirekten Beweises erreichten. Sie konnten indes mangels eines solchen Kalküls in verwickelten Fällen nicht zur richtigen Lösung gelangen, wenngleich die Grundlage der Entdeckung ihnen bekannt war. Man kann somit die unendlichen und unendlichkleinen Linien − auch wenn man sie nicht in metaphysischer Strenge und als reelle Dinge zugibt − doch unbedenklich als ideale Begriffe brauchen, durch welche die Rechnung abgekürzt wird, ähnlich den sog. imaginären Wurzeln in der gewöhnlichen Analysis …

 Man darf jedoch nicht glauben, dass durch diese Erklärung die Wissenschaft vom Unendlichen herabgewürdigt wird und auf Fiktionen zurückgeführt wird, denn es bleibt, − um mich schulmäßig auszudrücken, − immer ein synkategorematisch Unendliches bestehen; so bleibt es z. B. immer richtig, dass 2 gleich ist 1 + 1/2 + 1/4 + 1/8 …“

 Es bleibt aber der Eindruck, dass mathematische Struktur zur Diskussion steht und nicht nur die Frage nach einem korrekten und geschmeidigen Kalkül. Erst die Nonstandardanalysis machte „den eigentlichen Quell der Entdeckung“ zur Mathematik. Die Theorie der hyperreellen Zahlen ist historisch tief verwurzelt und eine Bereicherung unseres Kontinuumsbegriffs, ganz unabhängig von analytischer Notwendigkeit und Fruchtbarkeit.

 Die ersten nichtarchimedischen Körper wurden bereits im 19. Jahrhundert von Veronese und Levi-Cività konstruiert, siehe hierzu [ Veronese 1891 ], [ Levi-Cività 1892 ] und [ Hahn 1907 ]. Zur Nonstandardanalysis siehe [ Robinson 1966 ], [ Keisler 1976 ], [ Nelson 1977 ], [ Laugwitz 1978, 1986 ], [ Cutland 1988 ], [ Landers / Rogge 1994 ], [ Goldblatt 1998 ]. Zur Diskussion des Unendlichkleinen und des Kontinuumsbegriffs bei Leibniz vgl. [ Laugwitz 1992 ] und die Sammlung [ Salanskis 1992 ]. Die Forschungsmonographie [ Dales / Woodin 1996 ] untersucht allgemeinere geordnete Oberkörper von .

Kontinuität bei Kant

 Stellvertretend für die fortdauernde philosophische Diskussion um den Kontinuumsbegriff sei hier Immanuel Kant zitiert, der ein Kontinuum aus Punkten ebenfalls ablehnt. In der „Kritik der reinen Vernunft“ lesen wir [ Kant 1988, S. 210f. ]:

Kant (1781): 

„Die Eigenschaft der Größen, nach welcher an ihnen kein Teil der kleinstmögliche (kein Teil einfach) ist, heißt die Kontinuität derselben. Raum und Zeit sind quanta continua, weil kein Teil derselben gegeben werden kann, ohne ihn zwischen Grenzen (Punkten und Augenblicken) einzuschließen, mithin nur so, dass dieser Teil selbst wiederum ein Raum, oder eine Zeit ist. Der Raum besteht also nur aus Räumen, die Zeit aus Zeiten, Punkte und Augenblicke sind nur Grenzen, d. i. bloße Stellen ihrer Einschränkung; Stellen aber setzen jederzeit jene Anschauungen, die sie beschränken oder bestimmen sollen, voraus, und aus bloßen Stellen, als aus Bestandteilen, die noch vor dem Raume oder der Zeit gegeben werden könnten, kann weder Raum noch Zeit zusammengesetzt werden. Dergleichen Größen kann man auch fließende nennen, weil die Synthesis (der produktiven Einbildungskraft) in ihrer Erzeugung ein Fortgang in der Zeit ist, deren Kontinuität man besonders durch den Ausdruck des Fließens (Verfließens) zu bezeichnen pflegt.“

Bolzanos unvollendete Zahlenlehre

 Bolzano entwickelte zwischen 1830 − 1835, nach Fertigstellung seiner „Wissenschaftslehre“, einen arithmetischen Aufbau des Zahlensystems und speziell eine Theorie der reellen Zahlen. Diese Arbeiten finden sich in seinem Nachlass, sie blieben unvollendet und ohne Wirkung auf ihre Zeit, sind aber historisch und inhaltlich von hohem Interesse. Bolzano geht es um die Behandlung endlicher und unendlicher Zahlengrößen, unter denen er die „messbaren Zahlen“ auszeichnet:

Bolzano [ nach Rychlik 1962 ]:

„Was wir soeben über die Rationalzahlen oder diejenigen Größenausdrücke gesagt, von welchem die in dem Begriffe selbst geforderten Verrichtungen des Addierens, Subtrahierens, Multiplizierens und Dividierens eine endliche Menge nie übersteigen, setzt uns in den Stand, nun auch den zweiten Fall … in Erwägung zu ziehen, wo die Menge jener Verrichtungen ins Unendliche geht…

 Es sei mir erlaubt, einen jeden Zahlenbegriff, in welchem eine unendliche Menge von Verrichtungen, sei es nun des Addierens, oder Subtrahierens, oder Multiplizierens, oder Dividierens, oder aller zugleich gefordert wird, einen unendlichen Größenbegriff, und einen Ausdruck, durch den ein solcher Begriff dargestellt wird, einen unendlichen Größenausdruck zu nennen.“

 Als Beispiele für unendliche Größenausdrücke nennt Bolzano 1 + 2 + 3 + …, 1/2 − 1/4 + 1/8 − 1/16 + … und (1 − 1/2) (1 − 1/4) (1 − 1/8)

Bolzano [ nach Rychlik 1962 ]:

„Unter den unendlichen Zahlenbegriffen gibt es auch einige, die von einer solchen Beschaffenheit sind, dass sich zu jeder beliebigen wirklichen Zahl q [  ∈  + ], die wir als Nenner eines Bruches betrachten wollen, ein [ ganzzahliger ] Zähler p … mit dem Erfolge auffinden lässt, dass wir die beiden Gleichungen erhalten

S = p/q + P1 und S = (p + 1)/q − P2,

in welchen das Zeichen S den unendlichen Zahlenausdruck, die Zeichen P1 und P2 aber ein Paar durchaus positiver Zahlenausdrücke oder das erste zuweilen auch eine bloße Null bedeutet… [ also p/q ≤ S < (p + 1)/q ].

 Ein Zahlenausdruck S, in Betreff dessen es zu jedem beliebigen Werte von q ein p von der beschriebenen Beschaffenheit gibt, dass die zwei Gleichungen S = p/q + P1 und S = (p + 1)/q − P2 eintreten, heißt mir ein messbarer oder ermesslicher Ausdruck. Jeder andere dagegen unmessbar oder unermesslich. Den Bruch p/q nenne ich den messenden; und den Bruch (p + 1)/q den nächst größeren Bruch. Da S = p/q + P1, so nenne ich P1 die Ergänzung des messenden Bruches. In dem besonderen Falle, dass P1 = 0 ist, wo wir sonach S = p/q haben, nenne ich den messenden Bruch voll oder … das vollkommene Maß von S.“

 Bolzano versucht nun verschiedene Abgeschlossenheitseigenschaften der messbaren Zahlen nachzuweisen, etwa, dass mit x und y auch − x und x + y messbar sind.

 Es wurden verschiedene Versuche unternommen, den Ansatz von Bolzano zu rekonstruieren und zu modernisieren. Wir verweisen den hieran interessierten Leser neben [ Rychlik 1962 ] und den entsprechenden Teilen der Bolzano-Edition [ Berg 1975, 1976 ] auf [ Rootselaar 1964 ], [ Laugwitz 1964 ] und den Überblicksartikel [ Hykšová 200? ].

 Schon mit seinen „Paradoxien des Unendlichen“ hat Bolzano die nachfolgende Mengenlehre vorgefühlt und eingeleitet. Ebenso erweist er sich mit seiner Zahlenlehre als Vorläufer der Präzisierung des Kontinuumsbegriffs.

Die Arithmetisierung des Kontinuums: Weierstraß, Cantor, Heine, Méray und Dedekind

 Die Konstruktion der reellen Zahlen im 19. Jahrhundert fällt unter ein allgemeines „arithmetisches Programm“, das Dedekind in seiner Schrift „Was sind und was sollen die Zahlen?“ so formuliert:

Dedekind (1888): 

„… Gerade bei dieser Auffassung [ des stufenweisen Aufbaus des Zahlensystems ] erscheint es als etwas Selbstverständliches und durchaus nicht Neues, dass jeder auch noch so fern liegende Satz der Algebra und höheren Analysis sich als ein Satz über die natürlichen Zahlen aussprechen lässt, eine Behauptung, die ich auch wiederholt aus dem Munde von Dirichlet gehört habe …

 Aber ich erblicke keineswegs etwas Verdienstliches darin − und das lag auch Dirichlet gänzlich fern −, diese mühselige Umschreibung wirklich vorzunehmen und keine anderen als die natürlichen Zahlen benutzen und anerkennen zu wollen …“

 Hier wird das pythagoreische Thema „alles ist Zahl“ wieder lebendig, wobei nun auch das Kontinuum arithmetisch betrachtet werden soll. Kronecker hat diese Arithmetisierung streng konstruktiv aufgefasst, Dedekind dagegen stellt die prinzipielle Möglichkeit in den Mittelpunkt.

 Um analytische Sätze zumindest prinzipiell zahlentheoretisch formulieren zu können, müssen die reellen Zahlen selber erst arithmetisch eingeführt werden. Mit breiter öffentlicher Wirkung tat dies zuerst Weierstraß, der die reellen Zahlen in seinen Vorlesungen über Summen von sog. Aggregaten einführte (1860er Jahre, veröffentlicht erst durch Mitschriften von Hörern). „Aggregate“ sind hierbei Multimengen positiver rationaler Zahlen. Auf diesem Ansatz ruhen die Darstellungen von Heine und Cantor aus dem Jahre 1872, die die reellen Zahlen über Fundamentalfolgen einführen (unabhängig hiervon hat auch Méray diese Konstruktion entwickelt). Heine sieht sich angesichts der mündlich und in Notizen zirkulierenden Weierstraßschen Ideen verpflichtet, seine Darstellung als Ganzes zu rechtfertigen:

Heine (1872)

„… Abgesehen von den erheblichen Schwierigkeiten, einen solchen Stoff darzustellen, trug ich Bedenken, eine Arbeit zu veröffentlichen, welche vorzugsweise die mir durch mündliche Mitteilung überkommenen Gedanken Anderer, besonders des Herrn Weierstraß enthält …“

 Heine übernimmt die Fundamentalfolgen seiner Konstruktion von Cantor (wie er explizit festhält). Dennoch ist Heines Arbeit keine bloße Aufarbeitung „überkommener Gedanken Anderer“, sondern eine die „erheblichen Schwierigkeiten“ überwindende Darstellung, die neben einer Konstruktion von  auch die Hauptsätze der Analysis über stetige Funktionen entwickelt. Cantor selber verwendet Cauchy-Folgen rationaler Zahlen ab 1870 in seinen Vorlesungen. An Dedekind, der ihm im April 1872 seine Schrift „Stetigkeit und irrationale Zahlen“ zuschickte, schreibt er:

Cantor (1937): 

„… Wie ich mich schon jetzt überzeugt habe stimmt diejenige Auffassung des Gegenstandes, welche ich, ausgehend von arithmetischen Beschäftigungen, seit einigen Jahren mir herangebildet, mit der Ihrigen sachlich überein; nur in der begrifflichen Einführung der Zahlgrößen findet ein Unterschied statt…“

 Dedekind hat seine äquivalente Konstruktion von  über Schnitte bereits „im Herbst des Jahres 1858“ in Händen. In der Lehre, so berichtet er im Vorwort seines Buches, machte sich das Fehlen einer klaren Definition der reellen Zahlen besonders bemerkbar. Bemerkenswert ist, dass eine genaue Definition einer reellen Zahl zunächst eher in der Lehre vermisst wurde als in der Forschung: Auch Weierstraß’ Konstruktion findet im Hörsaal statt, und auch bei Heine, der durch seine Darstellung das „Fortschreiten der Funktionenlehre“ als Forschungsdisziplin befördern will, finden wir den Hinweis auf die Lehre des Stoffs (vgl. [ Heine 1872, S. 173, Fußnote ]).

 Veröffentlicht hat Dedekind seine Konstruktion dann erst 1872:

Dedekind (1872):

„… zu einer eigentlichen Publikation konnte ich mich nicht recht entschließen, weil erstens die Darstellung nicht ganz leicht, und weil außerdem die Sache selbst so wenig fruchtbar ist …“

 Kurz zuvor erschienen die Arbeiten von Heine und Cantor, und Dedekind nimmt in seinem Buch noch Bezug darauf. Die Arbeit von Heine wird zu unrecht kritisiert, Cantors „Korrespondenzaxiom“ − dass nämlich den Fundamentalfolgen auch tatsächlich Punkte der Geraden entsprechen − lobt Dedekind dagegen als das „Wesen der Stetigkeit“ treffend.

 Dedekind und Cantor stellen 1872 noch die anschaulich gegebene Gerade der arithmetischen Konstruktion zur Seite, ihre Punkte werden mit den konstruierten arithmetischen Gebilden in eine eindeutige Beziehung gebracht. Dedekind motiviert seine Schnitte aus einer offensichtlichen Eigenschaft einer stetigen Linie. In Heines Darstellung taucht dagegen − sehr modern − gar keine Gerade auf. Im Zuge der weiteren Präzisierung der Grundlagen erhebt sich die Frage, was eigentlich genau eine Gerade sein soll. In seiner zweiten Darstellung der Konstruktion von 1883 geht Cantor hierauf ein und gibt, wie heute üblich, einen „rein arithmetischen Begriff eines Punktkontinuums“ ([ Cantor 1883 ]). Damit ist die Arithmetisierung des Kontinuums vollzogen.