4. Euklidische Isometrien
Wir betrachten in diesem Kapitel elementare geometrische Eigenschaften der Euklidischen Räume ℝn, und klassifizieren mit einem Blick auf das Erlanger Programm von Felix Klein alle den Abstand erhaltenden Bijektionen auf ℝ, ℝ2 und ℝ3. Weiter isolieren wir die wesentlichen Unterschiede zwischen Rotationen in der Ebene und im dreidimensionalen Raum. Sie sind letztendlich für die Existenz und Nichtexistenz von sog. paradoxalen Zerlegungen verantwortlich, denen wir später begegnen werden.
Wir haben die reellen Zahlen als Abschluss der rationalen Verhältnisse, als stetiges Kontinuum untersucht, wir konnten sie ordnungstheoretisch und algebraisch charakterisieren und haben verschiedene Konstruktionsmethoden kennen gelernt. Ein wesentlicher geometrischer Gesichtspunkt blieb bislang noch unberücksichtigt: Der Zusammenhang zwischen den reellen Zahlen und der Anschauungsebene bzw. dem Anschauungsraum. Ebene und Raum basieren zunächst auf den „nackten“ Mengen ℝ2 und ℝ3, und erst das Messen von Abständen zweier Punkte macht diese Mengen zu einem geometrischen Raum. Das Messergebnis selber ist, was uns heute fast selbstverständlich erscheint, eine reelle Zahl. Wir verwenden allgemein die reellen Zahlen, um Abstände in mathematischen Räumen zu messen, insbesondere solche im ℝ2 und ℝ3. Der durch die Intuition gegebene Raumcharakter der Menge ℝ3 gehört in der nicht mehr geometrisch begründeten Mathematik einer zweiten Stufe an: Er basiert auf den reellen Zahlen als einer linear-arithmetischen Struktur. Allgemein basiert eine Geometrisierung der Räume ℝn bei dieser Betrachtungsweise auf dem angeordneten Zahlkörper ℝ.
Die Länge der Diagonale eines Rechtecks ist in der Geometrie Euklids nach dem Satz von Pythagoras die Wurzel aus der Summe der Quadrate der beiden Seitenlängen. Diese Einsicht wird an den Anfang gestellt, und man definiert allgemein eine Abstandsfunktion im ℝn wie folgt:
Definition (Abstand zweier Punkte, Euklidische Metrik)
Für x = (x1, …, xn), y = (y1, …, yn) ∈ ℝn setzen wir
d(x, y) = ((x1 − y1)2 + … + (xn − yn)2)1/2.
Wir nennen d(x, y) den (Euklidischen) Abstand der Punkte x und y.
Die Funktion d : ℝn → ℝ heißt die Euklidische Metrik auf ℝn.
Weiter heißt 〈 ℝn, d 〉 der Euklidische Raum der Dimension n.
Genauer müssten wir dn statt d schreiben, verzichten aber der besseren Lesbarkeit halber auf eine allzu penible Notation.
Hier und im Folgenden ist n ∈ ℕ beliebig. Im Fall n = 0 und ℝ0 = { 0 } sind zuweilen einige Konventionen wie z. B. (x1, …, xn) = ( ) = 0 = „das Nulltupel“ oder ∑1 ≤ i ≤ 0 xi = 0 nötig, die wir nicht immer explizit notieren.
Definition (Norm oder Länge von x)
Wir setzen für alle x ∈ ℝn: ∥x∥ = d(0, x).
∥x∥ heißt auch die Norm von x oder die Länge von x.
Es gilt d(x, y) = d(x − y, 0) = ∥x − y∥ für alle x, y ∈ ℝn.
Traditionell ist man geneigt, den Euklidischen Abstand zweier Punkte als den „wirklichen“ Abstand zu bezeichnen. Ganz unabhängig von einer evtl. vorhandenen Krümmung des „realen“ Raumes ist die Euklidische Metrik aber sicher von grundlegender theoretischer wie praktischer Bedeutung.
In diesem Kapitel setzen wir beim Leser etwas lineare Algebra voraus, genauer genügt eine gewisse Vertrautheit mit der Matrizentheorie (Zusammenhang mit linearen Abbildungen, reelle und komplexe Eigenwerte, Determinanten). Wir verweisen den Leser hierzu auf die Lehrbuchliteratur zur linearen Algebra. Wir verwenden die kontextüblichen Schreibweisen, insbesondere die Vorliebe der linearen Algebra, Skalare mit kleinen griechischen Buchstaben zu bezeichnen. Für einen Punkt x = (x1, x2, x3) ∈ ℝ3 und α ∈ ℝ ist etwa α x = (α x1, α x2, α x3) die skalare Multiplikation von x mit α, die der Streckung von x (bzgl. des Nullpunkts) um den Faktor α entspricht. Der Unterschied in der Notation unterstützt die obige Beobachtung, dass bei geometrischen Untersuchungen die reellen Zahlen in zweierlei Gewand auftauchen, als Menge von Vektoren in der Form ℝn, n ∈ ℕ, und als sog. Körper von Skalaren für diese Vektoren. Jeder endlich-dimensionale ℝ-Vektorraum ist nach dem ungekrönten Hauptsatz der linearen Algebra isomorph zu einem ℝn. Die Räume ℝn bilden also einen ausgezeichneten Gegenstand der Untersuchung.
Die n-dimensionale Euklidische Metrik d ist in der Tat eine Metrik auf ℝn, d. h. für alle Punkte x, y, z im ℝn gilt: d(x, y) = 0 genau dann, wenn x = y; d(x, y) = d(y, x); d(x, z) ≤ d(x, y) + d(y, z).
Die Metrik d führt weiter zu einem Längenmaß für hinreichend einfache Kurven im ℝn (d. h. für den Wertebereich bestimmter stetiger Funktionen f : [ 0, 1 ] → ℝn). Wir wollen hier aber nur noch Winkel einführen, und hierfür genügt uns die Längenmessung für die einfachsten Kurven. Die Länge eines endlichen Polygonzuges im ℝn ist sinnvoll als die Summe der Abstände der benachbarten Eckpunkte des Polygonzuges definiert. Weiter sei für n ∈ ℕ:
Sn − 1 = { x ∈ ℝn | d(0, x) = 1 } (also speziell S−1 = ∅, S0 = { −1, 1 })
die n-dimensionale Kugeloberfläche um den Nullpunkt mit Radius 1. (Der Leser denke bei S an Sphäre.) Der Schnitt von Sn − 1 und einer Ebene durch den Nullpunkt ist ein Kreis K mit Radius 1. In der offensichtlichen Weise können wir nun den Segmenten von K vermöge einer Approximation durch regelmäßige Polygonzüge eine Länge zuweisen. Die Kreiszahl π kann definiert werden als die Hälfte der Länge von K selbst. Weiter erhalten wir so eine Definition des Winkels w(x, y) im Bogenmaß, den zwei Vektoren x, y ∈ ℝn, x, y ≠ 0, einschließen. Wir betrachten hierzu drei Fälle. Gilt x = α y für ein α ∈ ℝ+, so setzen wir w(x, y) = 0. Gilt x = − α y für ein α ∈ ℝ+, so setzen wir w(x, y) = π. Andernfalls betrachten wir die Ebene E(x, y) = { αx + βy | α, β ∈ ℝ } und setzen K = E(x, y) ∩ Sn − 1. Die Schnittpunkte der durch x und y gegebenen Halbstrahlen mit K zerlegen K in zwei Kreissegmente, und wir definieren dann w(x, y) als die Länge des kürzeren dieser beiden Kreissegmente; es gilt dann w(x, y) ∈ ] 0, π [. Zwei Vektoren x und y heißen orthogonal (oder senkrecht aufeinander), falls x = 0 oder y = 0 oder x, y ≠ 0 und w(x, y) = π/2.
Wir halten noch eine fundamentale Eigenschaft des Euklidischen Abstands fest. Für x, y ∈ ℝn sei L(x, y) = { λx + (1 − λ)y | 0 ≤ λ ≤ 1 } das die beiden Punkte x und y verbindende Geradenstück. Man kann nun zeigen, dass L(x, y) die kürzeste Kurve zwischen x und y ist. Diese Aussage gilt für den zugrunde gelegten allgemeinen Begriff einer rektifizierbaren (längenmessbaren) Kurve. Ihr Beweis ist für den allgemeinen Kurvenbegriff relativ aufwendig; für Kurven, die aus Geradenstücken, Kreissegmenten oder ähnlich einfachen Objekten bestehen, ist die Aussage aber relativ leicht einzusehen, und dies genügt für das Folgende.
Neben der Abstandsfunktion d selbst kommt einem kanonischen Produkt zweier Vektoren mit skalarem Resultat eine herausragende Bedeutung zu. Wir geben die bekannte Definition hier ad hoc an:
Definition (Euklidisches Skalarprodukt)
Seien x = (x1, …, xn), y = (y1, …, yn) ∈ ℝn. Dann setzen wir:
〈 x, y 〉 = ∑1 ≤ i ≤ n xi yi.
Die Funktion 〈 ·, · 〉 : ℝn × ℝn → ℝ heißt das (Euklidische) Skalarprodukt auf ℝn.
Man zeigt für alle x , y ∈ ℝn:
(a) | 〈 x, y 〉2 ≤ ∥x∥2 · ∥y∥2 = 〈 x, x 〉 · 〈 y, y 〉. (Cauchy-Schwarz-Ungleichung) |
(b) | Der Vektor 〈 x, y 〉/〈 y, y 〉 · y ist für alle x, y ≠ 0 die Projektion von x auf y, d. h. der eindeutige Vektor z der Form z = α y mit w(y, x − z) = π/2. |
(c) | cos(w(x, y)) = 〈 x, y 〉/(∥x∥ · ∥y∥) für x, y ∈ ℝn, x, y ≠ 0. |
Die Eigenschaft (c) kann man auch zur Definition des Winkels w(x, y) verwenden. Im Hintergrund steht dann die Cosinus-Funktion der Analysis, also wie im Falle der Approximation des Kreises durch Polygone auch ein gewisses Maß an Theorie (wenn man nicht den Wert 〈 x, y 〉/(∥x∥ · ∥y∥) ∈ [ − 1, 1 ] selbst als den Winkel zwischen x und y betrachten will). Die elementargeometrischen Eigenschaften von Winkeln sind im Einzelnen natürlich zu beweisen. Wir setzen sie im Folgenden als bekannt voraus.
Das Skalarprodukt ist von H. Graßmann entdeckt worden. Es wird in seiner „Ausdehnungslehre“ von 1844 kurz erwähnt als ein Produkt mit bemerkenswerten algebraischen Eigenschaften. In der umgearbeiteten Version der „Ausdehnungslehre“ von 1862 spielt es im Umfeld metrischer Begriffe dann eine größere Rolle. Dort findet sich unter anderem schon der Zusammenhang (c) zwischen Winkeln, Skalarprodukt und der Cosinus-Funktion.