Das Maßproblem
Wir wollen Teilmengen A von ℝ ein Längenmaß oder kurz eine Länge zuordnen. Weiter wollen wir A ⊆ ℝ2 eine Fläche, A ⊆ ℝ3 ein Volumen, und allgemein Teilmengen A des ℝn ein n-dimensionales Volumen zuordnen für n ≥ 1 (wir verwenden den Begriff Volumen der sprachlichen Einfachheit halber zuweilen auch für die Dimensionen 1 und 2). Das n-dimensionale Volumen wird eine reelle Zahl größergleich 0 sein. Zuweilen wird man der Bequemlichkeit halber auch „unendlich“ als Wert des Messens zulassen.
Die Intuition über den Längenbegriff liefert zunächst als Ausgangspunkt: Ein reelles Intervall [ a, b ], a ≤ b, hat die Länge b − a. Allgemeiner hat ein n-dimensionaler Quader [ a, b ]n das Volumen (b − a)n. Es wäre nun möglich, von hier aus die Länge von immer komplizierteren Teilmengen von ℝ und ℝn festzulegen, oder wenn man so will, zu finden. Dieser besonnene Weg ist sehr fruchtbar und ein Abenteuer für sich, und wir werden später insbesondere bei der Diskussion der sog. Borel-Hierarchie sehen, wie reichhaltig ein „immer komplizierter“ sein kann, ohne dass dabei der Boden der konkret fassbaren Teilmengen von ℝ verlassen werden müsste. Wir suchen hier aber stürmisch und unerschrocken nach einem umfassenden Längenbegriff, der die ganze Potenzmenge von ℝ im Auge hat.
Die intuitiv klare „Homogenität des Raumes“ führt zu einer weiteren wesentlichen Eigenschaft für alle Teilmengen des ℝn: Längen ändern sich nicht durch Verschiebung, Volumina nicht durch Rotation, usw. Wir werden von einem Volumenbegriff, der seinen Namen verdient, allgemein erwarten, dass alle Euklidischen Isometrien volumentreu sind. Für alle n ≥ 1, alle Euklidischen Isometrien g : ℝn → ℝn und alle A ⊆ ℝn stimmen dann das Volumen von A und das Volumen von g″A überein.
Was können wir noch über „Länge“ sagen? Ein weiterer intuitiver Komplex lässt sich unter dem Stichwort „Additivität“ zusammenfassen: Disjunkte Vereinigungen von Mengen entsprechen der Summenbildung bei der Längenmessung. Intuitiv klar ist: Sind A und B disjunkte Teilmengen von ℝ, so ist die Länge von A ∪ B die Summe der Längen von A und B. Wie sieht es aber mit unendlich vielen disjunkten Mengen aus? Soll hier immer noch Additivität gelten? Dass ein „ja, sicher“ hier zu vorschnell ist, zeigt folgende einfache Überlegung: Die Länge von { x } ⊆ ℝ ist sicher Null für alle x ∈ ℝ. Aber ℝ ist die disjunkte Vereinigung aller { x }, also ℝ = ⋃x ∈ ℝ { x }. Also kann ein Längenmaß nicht beliebig additiv sein. Ebenso wäre aber ein „sicher nicht“ zu vorschnell. Abzählbar viele paarweise disjunkte Intervalle der Länge 1/2, 1/4, 1/8, … sollten zusammengenommen Länge 1 haben, darauf wird man kaum verzichten wollen. In der Tat erweist sich der Begriff der abzählbaren Additivität als ebenso sinnvoll wie stark, und dies sowohl aus praktischer als auch aus theoretischer Sicht. Die Überabzählbarkeit von ℝ macht es möglich, einzelnen Punkten von ℝ die Länge Null zuzuordnen und zugleich die Idee der unendlichen Summenbildung aufrechtzuerhalten.
Zur Präzisierung führen wir nun noch einige Begriffe ein. Im Folgenden betrachten wir Funktionen mit Werten in [ 0, ∞ ], wobei für den uneigentlichen Wert ∞ die üblichen Rechenregeln gelten sollen, etwa x + ∞ = ∞ + x = ∞ für alle x ∈ [ 0, ∞ ]. Ist A ⊆ [ 0, ∞ ] nach oben unbeschränkt, so sei sup(A) = ∞, usw. Die Zulassung von ∞ ist insgesamt eine rein notationelle Bequemlichkeit, auf die man aber schnell nicht mehr verzichten möchte.
Definition (additive und σ-additive Funktionen)
Sei M eine Menge von Mengen, und sei μ : M → [ 0, ∞ ] eine Funktion.
(i) | μ heißt endlich additiv (innerhalb M), falls für alle disjunkten A, B ∈ M mit A ∪ B ∈ M gilt: μ(A ∪ B) = μ(A) + μ(B). |
(ii) | μ heißt σ-additiv (innerhalb M), falls gilt: Ist N ⊆ M eine abzählbare Menge von paarweise disjunkten Mengen und ist ⋃ N ∈ M, so ist μ(⋃ N) = ∑A ∈ N μ(A). |
Hierbei ist ∑A ∈ N μ(A) ∈ [ 0, ∞ ] das Supremum der Partialsummen einer beliebigen endlichen oder unendlichen Aufzählung von { μ(A) | A ∈ N }. Jede σ-additive Funktion ist auch endlich additiv, da N in (ii) auch endlich sein kann.
Der Leser denke bei M an Mengen der Form ℘(R) für eine Menge R, oder an hinreichend reichhaltige Teilmengen von ℘(R). Speziell sind wir hier natürlich an R = ℝn für n ≥ 1 interessiert.
Das Lebesguesche Maßproblem für ein beliebiges n ∈ ℕ lautet damit:
Maßproblem für das n-dimensionale Kontinuum
Gibt es eine Funktion f : ℘(ℝn) → [ 0, ∞ ] mit:
(a) | f ([ 0, 1 ]n) = 1. (Normiertheit) |
(b) | f (A) = f (g″A) für alle A ⊆ ℝn und alle Isometrien g ∈ ℐn. (Bewegungsinvarianz) |
(c) | f ist σ-additiv. (σ-Additivität) |
Das n-dimensionale Maßproblem heißt lösbar, falls es eine derartige Funktion f gibt. f heißt dann ein volles bewegungsinvariantes Maß auf ℝn. Das Adjektiv voll bezieht sich hierbei auf den Definitionsbereich von f, die volle Potenzmenge von ℝn. Für A ⊆ ℝn heißt weiter f (A) das Maß von A unter f.
In der Originalfassung der Doktorarbeit von Lebesgue lautet die Fragestellung (formuliert für beschränkte Mengen und endliche Maße):
Lebesgue (1902):
„Nous proposons d’attacher à chaque ensemble borné un nombre positif ou nul que nous appellerons sa mesure et satisfaisant aux conditions suivantes:
1.° Il existe des ensembles dont la mesure n’est pas nulle.
2.° Deux ensembles égaux ont même mesure.
3.° La mesure de la somme d’un nombre fini ou d’une infinité dénombrable d’ensembles, sans points communs, deux à deux, est la somme des mesures de ces ensembles.“
Für eine Lösung f des Maßproblems gelten automatisch weitere Eigenschaften:
Übung
Sei f : ℘(ℝn) → [ 0, ∞ ] eine Lösung des Maßproblems der Dimension n.
Dann gilt:
(i) | f({ x }) = 0 für alle x ∈ ℝn, falls n ≠ 0. (Nichttrivialität) |
(ii) | f (A) ≤ f (B) für alle A, B ⊆ ℝn mit A ⊆ B. (Monotonie) |
(iii) | f (A) < ∞ für alle beschränkten A ⊆ ℝn. |
Weiter ergibt sich aus einer Lösung des Maßproblems für eine Dimension eine Lösung des Maßproblems für alle kleineren Dimensionen:
Übung
Ist das Maßproblem für n lösbar, so ist es auch für alle m < n lösbar.
[ Sei f wie im n-dimensionalen Maßproblem, und sei m < n.
Betrachte g : ℘(ℝm) → [ 0, ∞ ] mit g(A) = f (A × [ 0, 1 ]n − m) für A ⊆ ℝm. ]
Jede Lösung des Maßproblems wäre ein Kandidat für eine n-dimensionale Volumenfunktion. Man konnte sogar hoffen, dass eine Lösung für alle n ≥ 1 eindeutig bestimmt ist. Dann wäre ein n-dimensionales Volumen in zeitlos befriedigender Weise erklärt. Die Mathematik birgt aber immer wieder Überraschungen, und in der Tat ist das Maßproblem bereits für n = 1 unlösbar: Es gibt Teilmengen A des Kontinuums, denen man keine Länge zuweisen kann, wenn wir die obigen durch die Intuition gegebenen Anforderungen an „Länge“ stellen (σ-Additivität und Bewegungsinvarianz). Genauer zeigt sich, dass die scheinbar unproblematische Translationsinvarianz einer Länge, in Verbindung mit der σ-Additivität, durch die Existenz einer Zerlegung von ℝ in unendlich viele gleichwertige Teile vor unlösbare Probleme gestellt wird. Genaueres zeigt der Beweis des Satzes von Vitali, der nur vier Jahre nach der Formulierung des Maßproblems durch Lebesgue gefunden wurde. Hierzu definieren wir noch:
Definition (Translation einer Menge A ⊆ ℝn, A + x, A − x)
Seien A ⊆ ℝn, x ∈ ℝn. Dann setzen wir:
A + x | = x + A | = trx″A | (= { y + x | y ∈ A }), |
A − x | = A + (− x) | = tr−x″A | (= { y − x | y ∈ A }). |
A + x heißt die Translation und A − x die Rücktranslation von A um x.
Die Punktmenge A + x ist also das Ergebnis der Verschiebung der Figur A um den Vektor x ∈ ℝn. (Hier und im Folgenden ist y + x für x, y ∈ ℝn und n ≥ 1, die übliche Vektoraddition.)
Übung
Sei Q dicht in ℝ, und seien a, b ∈ ℝ mit a < b. Dann gilt für alle P ⊆ ℝ:
P = ⋃q ∈ Q (] a, b [ + q) ∩ P.
Nach diesen notationellen Vorbereitungen können wir nun relativ einfach den folgenden grundlegenden Satz beweisen ([ Vitali 1905 ]):
Satz (Satz von Vitali, Nichtexistenz einer vollen σ-additiven Längenfunktion)
Sei 𝔅 = { A ⊆ ℝ | A ist beschränkt }.
Dann gibt es kein μ : 𝔅 → ℝ+0 mit:
(i) | μ([ 0, 1 ]) > 0. |
(ii) | Für alle A ∈ 𝔅 und alle q ∈ ℚ gilt μ(A) = μ(A + q). |
(iii) | μ ist σ-additiv. |
Beweis
Annahme, es gibt eine solche Funktion μ.
Wir definieren eine Äquivalenzrelation ∼ auf ℝ durch:
x ∼ y falls x − y ∈ ℚ.
Sei V ⊆ [ 0, 1 [ ein vollständiges Repräsentantensystem für ∼.
Sei Q = ℚ ∩ [ − 1, 1 ]. Dann gilt:
(α) | Für alle q1, q2 ∈ Q mit q1 ≠ q2 ist (V + q1) ∩ (V + q2) = ∅. |
(β) | [ 0, 1 ] ⊆ ⋃q ∈ Q (V + q) = ⋃x ∈ V (x + Q). |
Sei W = ⋃q ∈ Q (V + q).
Dann ist W ⊆ [ − 1, 2 ] beschränkt, also W ∈ 𝔅.
Nach (α), (ii) und (iii) gilt:
μ(W) = ∑q ∈ Q μ(V + q) = ∑n ≥ 0 μ(V).
Also ist μ(V) = 0 wegen μ(W) ∈ ℝ. Also μ(W) = 0. Dann ist aber nach (β)
μ([ 0, 1 ]) ≤ μ(W) = 0,
im Widerspruch zu μ([ 0, 1 ]) > 0 nach (i).
Die Konstruktion von Vitali lässt sich sehr schön auch auf jedem Kreis K durchführen (und damit auf jedem Intervall [ 0, t [, t > 0, wenn man modulo t rechnet). Für x, y ∈ K definieren wir x ∼ y, falls der Winkel zwischen x und y bzgl. des Kreismittelpunktes ein rationales Vielfaches von 2π ist. Ist V ein vollständiges Repräsentantensystem dieser Relation, so ist K die disjunkte abzählbare Vereinigung aller Rotationen von V um die Winkel 2πq, q ∈ ℚ ∩ [ 0, 1 [. Alle diese Rotationen müssten wegen Bewegungsinvarianz das gleiche Maß μ haben. Wegen der σ-Additivität ist sowohl μ = 0 ausgeschlossen (da sonst K Maß 0 hätte) als auch μ > 0 (da sonst K kein endliches Maß hätte).
Der Beweis verwendet, dass jede Äquivalenzrelation ein vollständiges Repräsentantensystem besitzt. Wir geben noch einen zweiten Beweis des Satzes, der ein solches Repräsentantensystem mit Methoden der linearen Algebra gewinnt. Die reellen Zahlen können wir als Vektorraum über dem Körper ℚ auffassen: Die Vektoren sind Elemente von ℝ, als Skalare betrachten wir aber nur rationale Zahlen. Eine Basis des ℚ-Vektorraumes ℝ bezeichnet man traditionell als Hamelbasis. Eine Hamelbasis H ist also eine Teilmenge von ℝ derart, dass jedes x ∈ ℝ eine eindeutige Darstellung der Form x = ∑1 ≤ i ≤ n qi zi mit qi ∈ ℚ und zi ∈ H besitzt. Hamelbasen generieren in einfacher Weise nun ebenfalls Mengen, die die σ-additive Längenmessung vor unlösbare Probleme stellen:
Beweis (Variante des Beweises des Satzes von Vitali)
Sei H ⊆ ℝ eine Basis des ℚ-Vektorraumes ℝ mit 1 ∈ H. Wir setzen:
S = „der von H − { 1 } erzeugte Unterraum des ℚ-Vektorraumes ℝ“.
Sei wieder ∼ die obige Äquivalenzrelation auf ℝ, also x ∼ y gdw x − y ∈ ℚ.
Wir zeigen:
(+) S ist ein vollständiges Repräsentantensystem für ∼.
Beweis von (+)
Seien x, y ∈ S, und sei x − y = q ∈ ℚ. Dann ist q = 0 und x = y, denn andernfalls wäre 1 = x/q − y/q, und also 1 eine Linearkombination von Vektoren in H − { 1 }, im Widerspruch zur linearen Unabhängigkeit von H.
Also sind die Elemente von S paarweise nicht äquivalent.
Wegen H erzeugend ist weiter ℝ = ⋃q ∈ ℚ (S + q · 1) = ⋃x ∈ S (x + ℚ).
Also ist S vollständig.
Wir setzen nun:
V = { x ∈ [ 0, 1 [ | x + a ∈ S für ein a ∈ ℤ }.
Dann ist V immer noch ein vollständiges Repräsentantensystem für ∼, und der Beweis kann wie oben geführt werden.
Man kann das Argument auch so führen, ohne die Relation ∼ explizit zu erwähnen. Sei H eine Hamelbasis und sei x* ∈ H fest gewählt. Sei S der von H − { x* } erzeugte Unterraum von ℝ. Wegen H Basis ist ℝ die disjunkte Vereinigung der Mengen S + qx*, q ∈ ℚ. Wir setzen für q ∈ ℚ: Sq = (S + qx*) ∩ [ 0, 1 ].
Dann ist [ 0, 1 ] die disjunkte Vereinigung aller Sq, q ∈ ℚ. Annahme, es gibt ein μ wie im Satz von Vitali. Wegen μ σ-additiv und μ([ 0, 1 ]) > 0 existiert ein q* ∈ ℚ mit μ(Sq*) > 0. Wieder wegen μ σ-additiv existiert dann ein n ∈ ℕ mit μ(Sq* ∩ [ 1/n, 1 − 1/n ]) = ε > 0 (denn μ({ 0 }) = μ({ 1 }) = 0 und ] 0, 1 [ = ⋃n ≥ 1 [ 1/n, 1 − 1/n ]). Sei
Tq* = Sq* ∩ [ 1/n, 1 − 1/n ].
Wegen μ translationsinvariant gilt für alle r ∈ ℚ mit |r| < 1/n, dass μ(Tq* + r) = μ(Tq*). Dann sind die Mengen Tq* + r, r ∈ ℚ, |r| < 1/n, unendlich viele paarweise disjunkte Teilmengen von [ 0, 1 ], die alle das gleiche μ-Maß ε größer Null haben, Widerspruch.
Übung
(i) | Überlegen Sie sich, warum der Beweis des Satzes von Vitali mit der Äquivalenzrelation „x ∼ y, falls x − y ∈ ℤ“ nicht funktioniert. |
(ii) | Sei K der Kreis durch 0 mit Radius 1/(2π), und sei 0 < α < 1 irrational. Wir definieren auf K eine Äquivalenzrelation durch x ∼ y, falls x − y ∈ ℤα, d. h. falls ein z ∈ ℤ existiert mit x − y = zα. Zeigen Sie durch ein Zerlegungsargument wie bei Vitali, dass keine rotationsinvariante σ-additive Funktion μ : ℘(K) → [ 0, 1 ] existiert mit μ(K) = 1, und folgern Sie die Unlösbarkeit des Maßproblems für ℝ. |
[ zu (ii) siehe das gleich folgende Hausdorff-Zitat. ]
Unabhängig von Vitali hat Edward van Vleck eine nichtmessbare Menge konstruiert [ Vleck 1908 ]. Weiter hat dann Hausdorff 1914 die Unlösbarkeit des Maßproblems gefunden, offenbar in Unkenntnis seiner Vorläufer. Hausdorff argumentiert mit einer anderen Äquivalenzrelation. Wegen der grundlegenden Bedeutung des Ergebnisses und der weiten Verbreitung der Idee durch das Hausdorffsche Opus Magnum geben wir die Passage ausführlich wieder.
Hausdorff (1914):
„Wir werden den Inhaltsbegriff konstruktiv behandeln, d. h. durch eine bestimmte Vorschrift die Zahlen f (A) definieren und ihre Eigenschaften entwickeln. In der Wahl dieser Vorschrift lässt man sich natürlich durch gewisse Forderungen leiten, die an den Inhalt gestellt werden. Eine nur auf solchen Forderungen beruhende axiomatische Behandlungsweise ist von H. Lebesgue versucht worden, aber nicht zum Abschluss gekommen. Man wird jedenfalls das endliche, womöglich auch das abzählbare Summengesetz postulieren und überdies verlangen, dass kongruente Mengen gleichen Inhalt haben; um endlich einen allen Inhalten gemeinsamen Proportionalitätsfaktor zu bestimmen und insbesondere das Verschwinden aller Inhalte auszuschließen, wird man die Volumeneinheit fixieren, d. h. einem n-dimensionalen Würfel mit der Seitenlänge 1 den Inhalt 1 vorschreiben. Danach formuliert Lebesgue das Problem dahin, jeder (beschränkten) Menge A des Raumes En [ ℝn ] als Inhalt eine Zahl f (A) ≥ 0 unter folgenden Bedingungen zuzuordnen:
(α) | Kongruente Mengen haben denselben Inhalt. |
(β) | Der Einheitswürfel hat den Inhalt 1. |
(γ) | Es ist f(A + B) = f (A) + f (B) [ für disjunkte A, B ]. |
(δ) | Es ist f(A + B + C + …) = f (A) + f (B) + f (C) + … für eine beschränkte Summe von abzählbar vielen [ paarweise disjunkten ] Mengen. |
Dieses Problem … ist aber unlösbar, und zwar bereits für die linearen, um so mehr für die n-dimensionalen Mengen. Wir führen den Beweis so, dass wir die Einheitsstrecke A (0 ≤ x < 1), die den Inhalt f (A) = 1 haben soll, in abzählbar viele kongruente (genauer: zerlegungsgleiche) Summanden spalten, die also gleichen Inhalt haben müssten und damit das Axiom (δ) umstoßen. Lassen wir zunächst x alle reellen Zahlen durchlaufen und ordnen zwei reellen Zahlen mit ganzzahliger Differenz denselben Punkt von A zu: geometrisch gesprochen, wir wickeln die gerade Linie, in der A liegt, auf eine Kreisperipherie vom Radius 1/2π, die hierdurch umkehrbar eindeutig auf A bezogen wird. Zwei Mengen der Form
A0 = { x, y, z, … }, A1 = { x + α, y + α, z + α, … }
sind auf dem Kreise unmittelbar kongruent, da A1 aus A0 durch Verschiebung um den Bogen α entsteht. Auf der Einheitsstrecke sind sie zerlegungsgleich [d. h. können in endlich viele paarweise kongruente Stücke zerlegt werden] … Nach den Forderungen (α) (γ) haben also A0 und A1 denselben Inhalt.
Ist nun α eine irrationale Zahl, so entspricht jedem Punkt x eine abzählbare Menge
Px = { …, x − 2α, x − α, x, x + α, x + 2α, … },
gewissermaßen die Menge der Ecken eines dem Kreise eingeschriebenen regulären Polygons, das aber unendlich viele Seiten hat und sich nicht schließt; zwei verschiedene Mengen Px, Py haben keinen Punkt gemein. Wir wählen jetzt aus jeder Menge Px genau einen Punkt x aus und nennen A0 = { x, y, z, … } die Menge dieser Punkte, ferner für ganzzahliges m
Am = { x + mα, y + mα, … }
die Menge, die aus A0 auf dem Kreise durch Verschiebung um den Bogen mα entsteht. Es ist dann
A = ∑m Am = A0 + A1 + A− 1 + A2 + A− 2 + …
und alle Am haben denselben Inhalt f (Am) = f (A0). Das endliche Summenaxiom (γ) würde dann, weil für jede natürliche Zahl n
1 = f (A) ≥ f (A1) + f (A2) + … + f (An) = n · f (A0)
ist, f (A0) = 0 bedingen, und damit ist das abzählbare Summenaxiom (δ) verletzt.“
Insgesamt verwenden die Argumente allesamt substantiell das Auswahlaxiom (Existenz eines vollständigen Repräsentantensystems für Äquivalenzrelationen, Existenz einer Basis für den ℚ-Vektorraum ℝ). Man kann in der Mengenlehre zeigen, dass diese Verwendung unabdingbar ist. Ansprechender formuliert: Man konstruiert dort für sich interessante Modelle, in welchen das Auswahlaxiom verletzt ist, aber alle anderen Axiome der Mengenlehre gelten, und in welchen das Maßproblem von Lebesgue lösbar ist (und folglich eine Funktion μ wie im Satz von Vitali in der Tat existiert). Wir kommen in Kapitel 6 des zweiten Abschnitts hierauf noch zurück (siehe dort insb. den Satz von Solovay von 1970).
Wir haben insbesondere gezeigt:
Korollar (Unlösbarkeit des Lebesgueschen Maßproblems)
Für alle n ≥ 1 gilt: Das n-dimensionale Maßproblem ist nicht lösbar.
Für n = 0 ist μ : ℘({ 0 }) → ℝ mit μ({ 0 }) = 1, μ(∅) = 0 eine (und die einzige) Lösung.
Der Satz von Vitali zeigt die Unverträglichkeit der Translationsinvarianz und der σ-Additivität eines Maßes auf ganz ℘(ℝ). Vielleicht ist die σ-Additivität ja doch eine Forderung, die stärker ist als es zunächst scheinen mag? Oder hat das Problem gar nichts mit der σ-Additivität zu tun?
von Neumann (1929):
„Man kann nämlich an Stelle linearer Punktmengen ebene, räumliche, oder solche im n-dimensionalen Euklidischen Raume untersuchen, und für diese das allgemeine Maßproblem formulieren. An [ die Forderung der σ-Additivität ] ist, mit Rücksicht auf das Fiasko im eindimensionalen Falle, natürlich nicht zu denken, aber [ mit der Forderung der endlichen Additivität ] kann man es versuchen.“
Bemerkenswert ist die Bezeichnung „Fiasko“, die sich in mathematischen Veröffentlichungen wohl nur selten nachweisen lässt.
Wir betrachten also, wieder bescheiden geworden, das Inhaltsproblem für jede Dimension n ∈ ℕ.
Inhaltsproblem für das n-dimensionale Kontinuum
Gibt es eine Funktion f : ℘(ℝn) → [ 0, ∞ ] mit:
(i) | f ([ 0, 1 ]n) = 1. |
(ii) | f (A) = f (g″A) für alle A ⊆ ℝn und Isometrien g ∈ ℐn. |
(iii) | f ist endlich additiv. |
Eine derartige Funktion f heißt eine Lösung des Inhaltsproblems der Dimension n und weiter ein voller bewegungsinvarianter Inhalt auf ℝn. Für A ⊆ ℝn heißt f (A) der Inhalt von A unter f. Die Eigenschaften (i) − (iii) der Übung oben sind auch für Lösungen f des Inhaltsproblems erfüllt.
Für das Inhaltsproblem gelten nun die bemerkenswerten komplementären Sätze:
Satz (Unlösbarkeit des Inhaltsproblems für n ≥ 3, Hausdorff 1914)
Das Inhaltsproblem ist für alle n ≥ 3 unlösbar.
Weiter existiert kein rotationsinvarianter Inhalt μ : ℘(S2) → ℝ+ mit μ(S2) > 0 für die Kugeloberfläche S2 = { x ∈ ℝ3 | d(0, x) = 1 }.
Satz (Lösbarkeit des Inhaltsproblems für n = 1 und n = 2, Banach 1923)
Das Inhaltsproblem ist für n = 1 und n = 2 lösbar, und es existieren sogar verschiedene Lösungen.
Hausdorff fährt unmittelbar nach seiner „Vitali-Konstruktion“ fort:
Hausdorff (1914):
„Merkwürdigerweise ist selbst ohne die Forderung (δ) eine Lösung des Inhaltsproblems für alle beschränkten Mengen unmöglich, wenigstens im drei- oder mehrdimensionalen Raum (vgl. Anhang).“
Hausdorff hatte seinen Satz noch im Anhang seiner „Grundzüge der Mengenlehre“ bewiesen, und der Zusatz „wenigstens“ scheint anzudeuten, dass er nicht von der Lösbarkeit für die Dimensionen n = 1 und n = 2 ausging. Banachs Ergebnis ist in der Tat überraschend.
Im Falle von Längen und Flächen ist also eine bewegungs- und speziell also translationsinvariante endlich additive Messung aller Punktmengen möglich. Die Lösungen des Inhaltsproblems sind aber nicht eindeutig, und man kann also auch hier nicht von „der“ endlich additiven Länge oder Fläche einer beliebigen Teilmenge A ⊆ ℝ bzw. A ⊆ ℝ2 reden.
Wir werden diese negativen und positiven Resultate im nächsten Kapitel beweisen. Zuvor schildern wir aber noch, wie sich die Theorie des Messens durch Rückzug auf hinreichend große Teilsysteme von ℘(ℝn) aus der Affäre hilft.