Eine Verallgemeinerung des Riemann-Integrals
Das Lebesgue-Integral hat sich gegenüber dem Riemann-Integral aus inneren, aber auch aus pragmatischen Gründen durchgesetzt. Nun ist aber das bewährte Riemann-Integral einer Verallgemeinerung fähig, die mit dem Lebesgue-Integral konkurrieren kann; es handelt sich hierbei um das sog. Henstock-Kurzweil-Integral, entwickelt von Ralph Henstock und Jaroslav Kurzweil ab Mitte der 1950er-Jahre ([ Kurzweil 1957 ], [ Henstock 1963 ]). In komplizierterer Form taucht das Integral bereits bei Denjoy 1912 und Perron 1914 auf, aber die Identität der Konstruktionen wurde erst später klar. Wir geben die bestechende Definition an, ohne diesem Integral allzu lange nachforschen zu können.
Das Henstock-Kurzweil-Integral arbeitet wie das Riemann-Integral mit endlichen Partitionen eines Intervalls [ a, b ] inklusive Stützstellen und den zugehörigen Riemann-Summen für eine Funktion f : [ a, b ] → ℝ. Die Funktion f ist nicht mehr notwendig beschränkt. Der wesentliche Unterschied zum Riemannschen Integralbegriff ist, das Konzept der Feinheit δ ∈ ℝ+ einer Partition durch eine beliebige Eichfunktion δ : [ a, b ] → ℝ+ zu ersetzen. Eine solche Eichfunktion besagt: Wenn ein x ∈ [ a, b ] als Stützstelle für eine Riemann-Summe verwendet wird, so hat das Intervall der Partition, in welchem x liegt, höchstens die Länge δ(x). Wir definieren:
Definition (δ-Partitionen)
Sei [ a, b ] ein reelles Intervall mit a < b, und sei δ : [ a, b ] → ℝ+.
Eine δ-Partition von [ a, b ] ist eine endliche Folge 〈 ti, xi | i ≤ n 〉 mit der Eigenschaft:
(i) | a = t0 ≤ x0 ≤ t1 ≤ x1 ≤ … ≤ tn ≤ xn ≤ b. |
(ii) | ti + 1 − ti ≤ δ(xi) für alle i ≤ n (mit tn + 1 = b). |
Ein grundlegender und nicht völlig trivialer Existenzsatz der Theorie ist:
Satz (Lemma von Cousin)
Für alle δ : [ a, b ] → ℝ+ existiert eine δ-Partition von [ a, b ].
Beweis
Für x ∈ [ a, b ] sei Ux = ] x − δ(x)/2, x + δ(x)/2 [.
Dann ist [ a, b ] ⊆ ⋃x ∈ [ a, b ] Ux wegen δ(x) > 0 für alle x ∈ [ a, b ].
Wegen [ a, b ] kompakt existieren x0 < x1 < … < xn ∈ [ a, b ] mit
(+) [ a, b ] ⊆ ⋃i ≤ n Uxi.
Durch Ausdünnung können wir o. E. annehmen, dass x0, …, xn minimal für (+) ist, d.h. es gilt für alle k ≤ n:
(++) non([ a, b ] ⊆ ⋃i ≤ n, i ≠ k Uxi).
Ux0, …, Uxn bildet dann eine Folge von sich an ihren Grenzen überlappenden Intervallen, und jedes der Intervalle hat einen Mittelteil, der allen anderen fremd ist. Aus dieser übersichtlichen Anordnung gewinnen wir nun eine δ-Partition mit Stützstellen xi wie folgt:
Sei t0 = a. Für 1 ≤ i ≤ n sei ti das arithmetische Mittel der rechten Intervallgrenze von Uxi − 1 und der linken Intervallgrenze von Uxi, d. h.
2 ti = xi − 1 + δ(xi − 1)/2 + xi − δ(xi)/2.
Dann ist 〈 ti, xi | i ≤ n 〉 eine δ-Partition von [ a, b ].
Ganz wie früher sind die Riemann-Summen definiert:
Definition (Riemann-Summe bzgl. einer δ-Partition)
Sei f : [ a, b ] → ℝ, und sei p = 〈 ti, xi | i ≤ n 〉 eine δ-Partition von [ a, b ].
Dann ist die Riemann-Summe von f bzgl. p, in Zeichen ∑ p f, definiert als:
∑ p f = ∑i ≤ n f (xi) · |ti + 1 − ti|.
Die größere Freiheit in der Wahl des Typs der Partition führt nun zum Henstock-Kurzweil-Integral:
Definition (Henstock-Kurzweil-Integral)
Sei f : [ a, b ] → ℝ. f heißt HK-integrierbar, falls ein c ∈ ℝ existiert mit:
(+) | Für alle ε > 0 existiert ein δ : [ a, b ] → ℝ+ mit: |
|∑ p f − c| < ε für alle δ-Partitionen p von [ a, b ]. |
c heißt dann das HK-Integral von f.
Die Eichfunktionen δ heißen bei Henstock und Kurzweil gauge functions, und im englischen Sprachraum ist neben HK-Integral auch gauge integral gebräuchlich.
Das HK-Integral ist in der Tat wohldefiniert:
Übung
Ein c wie in der Definition ist im Falle der Existenz eindeutig bestimmt.
[ Annahme, es gibt c1 ≠ c2 wie in der Definition. Wir setzen ε = |c1 − c2|/2, und wählen δ1 und δ2 derart, dass |∑p1 f − c1| < ε und |∑p2 f − c2| < ε für alle δ1- bzw. δ2-Partitionen von [ a, b ] gilt. Weiter sei δ = min(δ1, δ2), punktweise.
Nach dem Lemma von Cousin existiert eine δ-Partition p von [ a, b ].
Dann gilt |c1 − c2| ≤ |∑p f − c1| + |∑p f − c2| < 2ε = |c1 − c2|, Widerspruch. ]
Das HK-Integral verallgemeinert also das Riemann-Integral wie folgt: Verlangen wir in der Definition des HK-Integrals stärker die Existenz einer konstanten Funktion δ : [ a, b ] → ℝ+ wie in (+), so reproduziert die Definition das Riemann-Integral. Denn eine δ-Partition ist dann nichts anderes als eine Partition der Feinheit δ(a) (= δ(x) für alle x ∈ [ a, b ]). Die Wahl des Buchstabens δ für Eichfunktionen soll auch die Analogie zum Riemann-Integral klar herausstellen: Eine Konstante wird durch eine Funktion ersetzt, die vertraute ε-δ-Argumentation bleibt identisch.
Die Aufregung an dieser Stelle ist nun groß: Welche Funktionen sind HK-integrierbar? Führt das via Eichfunktionen verallgemeinerte Riemann-Integral zu einem neuen interessanten Maß auf ℝ? Steht eine Revolution in der universitären Grundausbildung bevor?
Bevor wir diesen mathematischen und politischen Fragen nachgehen, zeigen wir als Beispiel, dass die Indikatorfunktion von ℚ dem HK-Integral keinerlei Schwierigkeiten bereitet.
Satz (das HK-Integral der Indikatorfunktion von ℚ)
Sei f = indℚ|[ 0, 1 ]. Dann ist f HK-integrierbar mit Wert Null.
Beweis
Sei q0, q1, …, qn, …, n ∈ ℕ, eine Aufzählung von ℚ ∩ [ 0, 1 ].
Sei ε > 0 gegeben. Wir setzen:
sn = ε/2n + 1 für alle n ∈ ℕ, sodass also ∑n ∈ ℕ sn = ε.
Wir definieren nun eine Eichfunktion δ : [ 0, 1 ] → ℝ+ durch:
Dann gilt |∑p f − 0| = ∑p f < ε für jede δ-Partition von [ 0, 1 ].
Also ist das HK-Integral von f gleich 0.
Allgemeiner zeigt das Argument, dass wir abzählbar viele unerwünschte Argumente einer Funktion mit Hilfe einer geeigneten Eichfunktion wegeichen können: Die Eichfunktion kann diese Punkte in winzige Intervalle zwingen. Tauchen einige von ihnen dann als Stützstellen einer Partition auf, so liefern sie für die Riemann-Summe nur einen winzigen Beitrag. Das HK-Integral ist also, wie das Lebesgue-Integral, stabil gegen abzählbare Manipulationen. Wir halten fest:
Satz
Sei f : [ a, b ] → ℝ HK-integrierbar mit Integral c.
Weiter sei g : [ a, b ] → ℝ derart, dass sich g von f nur an abzählbar vielen Stellen unterscheidet. Dann ist g HK-integrierbar mit Integral c.
In der Tat besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem HK-Integral und dem Lebesgue-Integral. Wir geben hierzu und zu anderen Fragen einige Hauptresultate der Theorie der Henstock-Kurzweil-Integration an, und verweisen den neugierig gewordenen Leser auf die Literatur, etwa [ Bongiorno 2002 ], [ Gordon 1994 ], [ Henstock 1991 ], [ McLeod 1980 ], [ Pfeffer 1993 ].
HK-Integral und Lebesgue-Integral
Ist f : [ a, b ] → ℝ Lebesgue-integrierbar, so ist f HK-integrierbar. Andererseits gilt: Ist f : [ a, b ] → ℝ HK-integrierbar, so ist f Lebesgue-messbar. Ist also f positiv, so ist f ±∞-Lebesgue-integrierbar und die beiden Integrale sind gleich. Ebenso gilt für beschränkte f : [ a, b ] → ℝ die Äquivalenz: f ist HK-integrierbar gdw f ist Lebesgue-integrierbar.
Insbesondere ist also das durch das HK-Integral via Indikatorfunktionen induzierte Maß auf [ 0, 1 ] genau das Lebesgue-Maß. Damit liefert das HK-Integral eine neue Definition des Lebesgue-Maßes.
Die HK-integrierbaren Funktionen auf einem Intervall [ a, b ] sind eine echte Obermenge der Lebesgue-integrierbaren Funktionen auf diesem Intervall. Die entsprechenden zusätzlichen Funktionen haben notwendig einen stark oszillierenden Vorzeichenwechsel und sie sind unbeschränkt.
Eine gute Topologie auf dem Raum der HK-integrierbaren Funktionen, dem sog. Denjoy-Raum, ist nicht bekannt. Die bekannten Lp-Räume der Lebesgue-integrierbaren Funktionen mit endlichem Integral sind hier ein großer Strukturvorteil der Lebesgueschen Theorie und ein Beispiel für „weniger Funktionen, mehr Struktur“.
HK-Integral und Riemann-Integral
Das HK-Integral beinhaltet bereits die uneigentlich Riemann-integrierbaren Funktionen auf kompakten Intervallen.
Zur Theorie des HK-Integrals
Es gilt eine sehr allgemeine Form des Hauptsatzes der Differential- und Integralrechnung. Die Verallgemeinerung des HK-Integrals auf höhere Dimensionen ist möglich, aber technisch anspruchsvoller.
Zur „politischen“ Diskussion
Henstock, Kurzweil und andere haben sich in den 1990er-Jahren in offenen Briefen dafür ausgesprochen, das Riemann-Integral der Grundvorlesungen durch das HK-Integral zu ersetzen. Der Aufruf hat bislang wenig Anklang und Umsetzung gefunden. Die Literatur zum HK-Integral ist aber, auch auf einführendem Niveau, mittlerweile recht reichhaltig.
Das Lebesgue-Integral wird durch das HK-Integral wohl nicht verdrängt werden. In jedem Falle hat das HK-Integral eine neue und recht knappe Definition des Lebesgue-Maßes geliefert. Hinzu kommt noch:
Das McShane-Integral
Wir erwähnen zum Ende dieses Kapitels noch eine verblüffende Variation des Henstock-Kurzweil-Integrals [ McShane 1973 ]:
Definition (McShane-Integral)
Sei [ a, b ] ein reelles Intervall mit a < b, und sei δ : [ a, b ] → ℝ+.
Eine freie δ-Partition von [ a, b ] ist eine endliche Folge 〈 ti, xi | i ≤ n 〉 mit der Eigenschaft:
(i) | a = t0 ≤ t1 ≤ … ≤ tn ≤ b. |
(ii) | xi ∈ [ a, b ] für alle i ≤ n. |
(iii) | ti + 1 − ti ≤ δ(xi) für alle i ≤ n (mit tn + 1 = b). |
Das McShane-Integral für Funktionen f : [ a, b ] → ℝ ist nun genau wie das HK-Integral definiert, wobei überall δ-Partition durch freie δ-Partition ersetzt wird.
Die Stützstellen xi des McShane-Integrals, an denen eine Riemann-Summe ausgewertet wird, dürfen nun also beliebig in [ a, b ] gewählt werden und nicht mehr nur innerhalb [ ti, ti + 1 ]. Die McShane-Integrierbarkeit ist also schwerer zu erfüllen als die HK-Integrierbarkeit, da der letzte Allquantor der Definition über die größere Menge der freien δ-Partitionen läuft, bei gegebener Eichfunktion δ.
Das McShane-Integral sieht in dieser adhoc-Formulierung nach einer recht wilden Idee aus, aber es zeigt sich [ McShane 1969 ]:
Satz (Satz von McShane)
Sei f : [ a, b ] → ℝ. Dann sind äquivalent:
(i) | f ist McShane-integrierbar. |
(ii) | f ist Lebesgue-integrierbar. |
Damit ist auch das Lebesgue-Integral letztendlich ein Integral des Riemannschen Typus.