Maße auf σ-Algebren
Der Satz von Vitali zeigt, dass Translationsinvarianz und σ-Additivität für eine Maßfunktion auf ℘(ℝ) nicht zu haben sind. Allgemein hat sich innerhalb der Mengenlehre herausgestellt, dass die Existenz einer σ-additiven reellwertigen nichttrivialen Maßfunktion, die auf der vollen Potenzmenge einer überabzählbaren Menge definiert ist, eine sehr starke Hypothese darstellt, die zwar (mutmaßlich) konsistent ist, aber den Rahmen der üblichen Mathematik dramatisch sprengt. Der Kern des Problems liegt also tatsächlich in der σ-Additivität und hat speziell mit ℝ nichts zu tun. Im Fall von ℝ transportiert aber, wie wir gesehen haben, die Symmetrieforderung der Translationsinvarianz die ohnehin schon sehr starke Forderung der σ-Additivität eines Maßes definitiv ins Reich der Unmöglichkeit.
Von theoretischer wie praktischer Warte aus gesehen bietet sich nun folgende Strategie an, wenn man an der σ-Additivität festhalten will: Man reduziert den Definitionsbereich einer Maßfunktion von ganz ℘(ℝn) auf ein Teilsystem von ℘(ℝn). Allgemein definieren wir:
Definition (Algebra, σ-Algebra)
Sei M eine nichtleere Menge, und sei 𝒜 ⊆ ℘(M).
(a) | 𝒜 ⊆ ℘(M) heißt eine (Mengen-)Algebra auf M, falls gilt:
|
(b) | Eine Algebra 𝒜 auf M heißt eine σ-Algebra, falls gilt: Ist X ⊆ 𝒜 abzählbar, so ist ⋃ X ∈ 𝒜. |
Aufbauend auf dem Konzept der σ-Algebra ergeben sich nun die Grundlagen der Maßtheorie. Im allgemeinen Begriff eines Maßes spielt die für das Volumen so zentrale Bewegungsinvarianz keine Rolle mehr.
Definition (σ-finite Maße und Maßräume)
Sei M eine nichtleere Menge und sei 𝒜 eine σ-Algebra auf M.
Eine Funktion μ : 𝒜 → [ 0, ∞ ] heißt ein σ-finites Maß auf 𝒜, falls gilt:
(i) | μ ist σ-additiv. |
(ii) | Es gibt ein abzählbares X ⊆ 𝒜 derart, dass M = ⋃ X und μ(A) < ∞ für alle A ∈ X. (σ-Finitheit) |
Die Struktur 〈 M, 𝒜, μ 〉 heißt ein σ-finiter Maßraum.
Ein σ-finites Maß auf 𝒜 heißt ein (endliches) Maß auf 𝒜, falls μ(M) < ∞ ist.
μ heißt ein Wahrscheinlichkeitsmaß oder normiert, falls μ(M) = 1 gilt.
Entsprechend heißt 〈 M, 𝒜, μ 〉 ein Maßraum bzw. Wahrscheinlichkeitsraum.
Automatisch gilt Monotonie, d. h. μ(A) ≤ μ(B), falls A ⊆ B, A, B ∈ 𝒜. Weiter ist μ(∅) = 0, denn für alle A ∈ 𝒜 ist μ(A) = μ(A ∪ ∅) = μ(A) + μ(∅), also gilt μ(∅) = ∅, falls μ(A) < ∞ (ein solches A existiert nach σ-Finitheit). Wer solche Sophistereien nicht mag, nimmt die Forderung μ(∅) = 0 in die Definition mit auf.
Dagegen wird μ({ x }) = 0 für { x } ∈ 𝒜 nicht gefordert. μ kann, wie man sagt, einzelnen Punkten eine bestimmte Masse zuweisen. Dies ist z. B. automatisch der Fall, wenn M abzählbar unendlich, 𝒜 = ℘(M) und μ(M) > 0 ist. Denn dann ist μ(M) = ∑x ∈ M μ({ x }).
Gilt μ(A) = 0 für alle A ∈ 𝒜, so heißt μ auch das Nullmaß auf 𝒜.
In einem noch weiter gefassten Rahmen verzichtet man auf die Bedingung (ii), also auf die σ-Finitheit von μ. Diese allgemeineren Maße sind hier nicht von Interesse. Für das Folgende kann man „sei μ ein σ-finites Maß…“ immer als Hinweis lesen, dass auch der Wert ∞ angenommen werden kann, während „sei μ ein Maß“ immer bedeutet, dass das μ-Maß der Grundmenge endlich ist.
Eine häufig verwendete Eigenschaft von σ-additiven Maßen ist ihre σ-Stetigkeit: Ist An, n ∈ ℕ, eine ⊆-aufsteigende Folge in 𝒜, so ist μ(⋃n ∈ ℕ An) = supn ∈ ℕ μ(An). Analog ist μ(⋂n ∈ ℕ An) = infn ∈ ℕ μ(An) für eine ⊆-absteigende Folge mit μ(A0) < ∞.
Schwächt man die σ-Additivität zur Additivität ab, so spricht man von Inhalten anstatt von Maßen. Für Inhalte genügt konsequenterweise eine Algebra als Definitionsbereich:
Definition (Inhalte)
Sei M eine nichtleere Menge und sei 𝒜 eine Algebra auf M.
Eine Funktion μ : 𝒜 → [ 0, ∞ ] heißt ein σ-finiter Inhalt auf 𝒜, falls (ii) wie oben gilt sowie: (i)′ μ ist endlich additiv.
Die Struktur 〈 M, 𝒜, μ 〉 heißt ein σ-finiter Inhaltsraum.
Ein σ-finiter Inhalt μ auf 𝒜 heißt ein Inhalt auf 𝒜, falls μ(M) < ∞.
Statt der Bezeichnung Inhalt, die auf Georg Cantor (1884) zurückgeht, ist auch endlich additives Maß gebräuchlich. Im Englischen findet man entsprechend content und finitely additive measure, und zuweilen auch charge.
Jedes Maß ist offenbar auch ein Inhalt. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf Maße. Dem Inhaltsproblem werden wir uns in Kapitel 6 wieder zuwenden.
Sei μ ein σ-finites Maß auf 𝒜, und sei B ∈ 𝒜. Im Allgemeinen ist eine beliebige Teilmenge A von B kein Element von 𝒜 mehr. Ist nun A ⊆ B, B ∈ 𝒜 und zudem μ(B) = 0, so haben wir A mit μ bereits implizit mitgemessen, obwohl A nicht in 𝒜 zu liegen braucht. Denn wegen der Monotonie von Maßen und μ(∅) = μ(B) = 0 bleibt für A mit ∅ ⊆ A ⊆ B nur der Wert 0, wenn wir A durch Erweiterung von 𝒜 messbar machen wollen. Es bietet sich also ein natürlicher Erweiterungs- oder Vervollständigungsbegriff für Maße an. Zunächst definieren wir genau, was „implizit mitgemessen“ heißen soll.
Definition (μ-messbare Mengen, μ-Nullmengen)
Sei 〈 M, 𝒜, μ 〉 ein σ-finiter Maßraum.
(i) | Ein N ⊆ M heißt eine μ-Nullmenge, falls ein N′ ∈ 𝒜 existiert mit: N ⊆ N′ und μ(N′) = 0. |
(ii) | Ein P ⊆ M heißt μ-messbar, falls P = A ∪ N für ein A ∈ 𝒜 und eine μ-Nullmenge N ⊆ M. |
Die Definition der μ-Messbarkeit ist eine vereinfachte Version der Bedingung, die der Leser vielleicht erwartet hat:
Übung
In der Situation der Definition sind für alle P ⊆ M äquivalent:
(i) | P ist μ-messbar. |
(ii) | Es gibt ein A ∈ 𝒜 mit: P Δ A ist eine μ-Nullmenge (mit P Δ A = (P − A) ∪ (A − P)). |
Ein σ-finites Maß μ auf einer σ-Algebra 𝒜 auf M kann nun wie erwartet durch Einbinden seiner Nullmengen erweitert werden:
Definition (Vervollständigung eines Maßes)
Sei 〈 M, 𝒜, μ 〉 ein σ-finiter Maßraum. Wir setzen:
𝒜c = { P ⊆ M | P ist μ-messbar }.
Weiter definieren wir μc : 𝒜c → [ 0, ∞ ] durch
μc(P) = μ(A) für alle P ∈ 𝒜c,
wobei P = A ∪ N für beliebige A, N mit A ∈ 𝒜, N eine μ-Nullmenge.
μc heißt die Vervollständigung von μ, und weiter 〈 M, 𝒜c, μc 〉 die Vervollständigung von 〈 M, 𝒜, μ 〉.
Man zeigt leicht, dass die Vervollständigung μc eines σ-finiten Maßes μ wieder ein σ-finites Maß auf der σ-Algebra 𝒜c ⊇ 𝒜 ist. Offenbar setzt μc das Maß μ fort, d. h. es gilt μc(A) = μ(A) für alle A ∈ 𝒜. Im Allgemeinen ist 𝒜 eine echte Teilmenge von 𝒜c. Wie erwartet liefert die Iteration des Verfahrens dann aber nichts Neues mehr: Es gilt (𝒜c)c = 𝒜c und folglich (μc)c = μc. Anders: Die μc-Nullmengen sind genau die μ-Nullmengen.
Nach diesen allgemeinen Definitionen kommen wir nun zur Konstruktion des Lebesgueschen Maßes, dessen Ziel die Messung n-dimensionaler Volumina für alle n ≥ 1 und möglichst vielen „Figuren“ A ⊆ ℝn ist. Es ist gegenüber anderen Maßen durch die Forderung der Bewegungsinvarianz ausgezeichnet.