Mengen mit positivem Lebesgue-Maß und Intervalle
Wir hatten oben die Definition des Lebesgue-Maßes durch das demokratische Verstreichen der Masse 1 über das Einheitsintervall beschrieben. Eine informale Frage ist nun: Lässt sich nun nachträglich, d. h. gegeben λ, auch die Masse 1/2 gleichmäßig über [ 0, 1 ] verteilen? Der folgende in dieser Hinsicht irritierende Satz zeigt, dass dies nicht möglich ist: Eine Lebesgue-messbare Menge ist irgendwo immer fast so dick wie ein ganzes Intervall.
Satz (Mengen mit positivem Lebesgue-Maß enthalten fast ein Intervall)
Sei P ⊆ ℝ mit λ(P) > 0, und sei ρ ∈ ℝ mit ρ < 1. Dann existiert ein Intervall I = [ a, b ] mit a < b derart, dass gilt: λ(P ∩ I)/λ(I) > ρ.
Beweis
O. E. ist P beschränkt (sonst ersetze P durch P′ = P ∩ [ − n, n ] für ein n mit λ(P′) > 0; es genügt, die Aussage für P′ zu zeigen).
Wegen λ(P) > 0 existieren dann offene, nichtleere Intervalle In, n ∈ ℕ, mit:
(i) | P ⊆ ⋃n ∈ ℕ In, |
(ii) | ρ · ∑n ∈ ℕ λ(In) < λ(P). |
Wegen (i) ist P ⊆ ⋃n ∈ ℕ P ∩ In, und folglich gilt λ(P) ≤ ∑n ∈ ℕ λ(P ∩ In).
Also gilt nach (ii): ρ · ∑n ∈ ℕ λ(In) < ∑n ∈ ℕ λ(P ∩ In).
Dies ist offenbar nur möglich, wenn für mindestens ein n ∈ ℕ gilt, dass ρ · λ(In) < λ(P ∩ In). Dann ist In wie gewünscht.
Anders ausgedrückt: Es gibt keine Lebesgue-messbaren Teilmengen von ℝ, die eine homogene Dichte 0 < ρ < 1 haben.
Hieraus folgt nun der ebenso verblüffende Satz von Hugo Steinhaus (1920), der die folgende Frage von Sierpiński in einer starken Form bejahen konnte: Ist P ⊆ ℝ Lebesgue-messbar mit λ(P) > 0, existieren dann zwei verschiedene Punkte x, y ∈ P mit x − y ∈ ℚ? Steinhaus zeigte, dass die Differenzenmenge P − P sogar immer ein volles Intervall enthält:
Satz (Satz von Steinhaus)
Sei P ⊆ ℝ Lebesgue-messbar mit λ(P) > 0. Dann existiert ein δ > 0 mit [ − δ, δ ] ⊆ P − P, wobei P − P = { x − y | x, y ∈ P }.
Beweis
Sei I = [ a − δ, a + δ ], a ∈ ℝ, δ > 0 mit λ(P ∩ I)/(2δ) > 3/4.
Ein solches Intervall I existiert nach dem Satz oben.
Die Wahl von 3/4 geschieht zur Sicherung von:
(+) | Ist J ein Teilintervall von I der Länge δ, so gilt λ(P ∩ J)/δ > 1/2. |
Zum Beweis beachte man die Falstaffsche Weisheit: Wer mehr als 3/4 eines Tages schläft, der schläft in jedem zwölf-Stunden-Intervall mehr als sechs Stunden.
Sei nun z ∈ [ − δ, δ ]. Dann existiert ein Teilintervall J von I der Länge δ derart, dass J + z ⊆ I. (De facto ist [ a − δ, a ] oder [ a, a + δ ] geeignet.)
Dann gilt λ(P ∩ J) > δ/2 und λ(P ∩ (J + z)) > δ/2 nach (+).
Wegen der Translationsinvarianz von λ ist weiter auch
λ((P ∩ J) + z) = λ(P ∩ J) > δ/2.
Dann sind aber (P ∩ J) + z und P ∩ (J + z) zwei Teilmengen von J + z vom Maß > δ/2 = λ(J + z)/2. Folglich ist der Schnitt dieser Mengen nichtleer.
Also existieren x ∈ P ∩ J und y ∈ P ∩ (J + z) mit x + z = y.
Insbesondere also z = y − x ∈ P − P. Insgesamt ist also [ − δ, δ ] ⊆ P − P.