Das geometrische Lebesgue-Integral
Mit Hilfe des Lebesgue-Maßes λ2 auf ℝ2 kann das Lebesgue-Integral für reelle Funktionen sehr einfach und der Anschauung entgegenkommend definiert werden: Wir messen die von f und der x-Achse eingeschlossene Fläche, wobei der Bereich unterhalb der x-Achse negativ beiträgt. Genauer messen wir also zweimal: Einmal den positiven Bereich, und einmal den negativen. Da unser Flächenmaß auch unbeschränkte Teilmengen messen kann, lassen wir zusätzlich + ∞ und − ∞ in der üblichen Bedeutung als Funktionswerte zu.
Definition (Lebesgue-Integral, geometrische Definition)
Sei f : dom(f) → ℝ ∪ { − ∞, + ∞ }, dom(f) ⊆ ℝ, eine Funktion. Wir setzen:
A+ = A+(f) = { (x, y) ∈ ℝ2 | x ∈ dom(f), 0 ≤ y < f (x) },
A− = A−(f) = { (x, y) ∈ ℝ2 | x ∈ dom(f), f (x) < y < 0 }.
Die Mengen A+ und A− heißen auch die Flächenmengen von f.
f heißt integrierbar, falls A+, A− ∈ ℒ2 und λ2(A+), λ2(A−) < ∞.
f heißt ± ∞-integrierbar, falls A+, A− ∈ ℒ2 und λ2(A+) < ∞ oder λ2(A−) < ∞.
Entsprechend heißt dann
L(f) := ∫ f dλ := ∫ f (x) dλ(x) := λ2(A+) − λ2(A−) ∈ ℝ ∪ { ∞, − ∞ }
das Integral von f bzw. das ±∞-Integral von f.
Ist ] a, b [ ⊆ dom(f) für a ≤ b, so sei L(f; a, b) = ∫ba f dλ = L(f|] a, b [).
Im Sinne dieser Definition des Integrals ist die zu integrierende Funktion also lediglich ein Kode für eine bestimmte (signierte) Fläche im ℝ2.
Analog lässt sich ein Integral für n-dimensionale Funktionen mit Hilfe des Volumenmaßes λn + 1 einführen.
Einige Bemerkungen: 1. Die Leibnizschen Integralzeichen (stilisierte Summensymbole) sind aufgrund ihrer algebraischen Kraft beim Rechnen mit Integralen unschlagbar. Im folgenden wird aber das Lebesgue-Maß und sein Integral mehr untersucht als verwendet, und wir bevorzugen deswegen die funktionale Notation L(f) für das Integral.
2. Genauer müssten wir Lebesgue-integrierbar, Lebesgue-Integral, usw. sagen, aber wir legen Lebesgue- als Standard im Umfeld der Integrierbarkeit fest und unterdrücken deswegen die Spezifikation. Wir reden dann explizit etwa von Riemann-integrierbar, wenn wir diesen zweiten Integralbegriff im Vergleich betrachten.
3. Die Integrierbarkeit, also L(f) ∈ ℝ, wird gegenüber der allgemeineren ± ∞-Integrierbarkeit, also L(f) ∈ [ − ∞, ∞ ], in der Regel bevorzugt, um beim Rechnen mit Integralen frei arbeiten zu können. Insbesondere ist dann nicht zu befürchten, aus 0 + ∞ = 1 + ∞ durch einen kürzenden Kurzschluss zu folgern, dass 0 = 1 gilt. Zuweilen will man sich aber der anderen Freiheit, mehr Funktionen integrieren zu können, nicht berauben, und deswegen wird der Begriff der ± ∞-Integrierbarkeit mitgeführt. Man erlaubt hier auch unendliche Messungen, lediglich eine Mischform L(A+) − L(A−) = ∞ − ∞ oder L(A+) − L(A−) = − ∞ + ∞ ergibt keinen Sinn.
4. Die obige Definition von integrierbar bei gleichzeitiger Verwendung von L(f) für ± ∞-integrierbare Funktionen hat sich durchgesetzt. Sie kann Anlass zur Verwirrung sein: Die Funktion f = id|ℝ+0 ist nicht integrierbar, aber L(f) ist definiert (und gleich ∞); f ist also nicht integrierbar, aber L(f), das Lebesgue-Integral von f, existiert.
Aus dem Integral lässt sich das Maß auf ℝ zurückgewinnen: Ist P messbar, so ist indP ±∞-integrierbar mit L(indP) = λ(P). Denn es gilt λ2(P × [ 0, 1 ]) = λ(P) · 1 = λ(P) für alle messbaren P ⊆ ℝ.
Ist f : [ 0, 1 ] → ℝ integrierbar, so heißt L(f) ∈ ℝ der Mittelwert von f. Denn L(f) = L(constt), wobei constt : [ 0, 1 ] → { t } die konstante Funktion auf [ 0, 1 ] mit Wert t = L(f) ist. Ist allgemeiner f : P → ℝ integrierbar derart, dass P ∈ ℒ und λ(P) > 0, so heißt L(f)/λ(P) der (Lebesguesche) Mittelwert von f.
Für das zweistufige Messen bewährt sich folgende Aufteilung:
Definition (Positivteil und Negativteil)
Sei f : dom(f) → ℝ ∪ { − ∞, + ∞ }. Wir definieren für x ∈ dom(f):
f +(x) = max(0, f (x)), f −(x) = − min(0, f (x)).
Wir nennen f +, f − : dom(f) → ℝ+0 den Positiv- bzw Negativteil von f.
Für alle f : dom(f) → ℝ ∪ { ∞, − ∞ } gilt offenbar f = f + − f −. (Hier und im Folgenden sind alle fraglichen Operationen mit Funktionen punktweise; so ist etwa |f| die Funktion mit |f|(x) = |f (x)| für alle x ∈ dom(f).) Weiter sind äquivalent:
(i) | f ist integrierbar, |
(ii) | |f| ist integrierbar, |
(iii) | f + und f − sind integrierbar. |
Es gilt dann L(f) = L(f +) − L(f −). Diese Zerlegung in Positiv- und Negativteil erlaubt es oft, in einem Argument o. E. anzunehmen, dass die vorliegende Funktion überall Werte in [ 0, ∞ ] annimmt.
Durch Nullfortsetzung einer integrierbaren Funktion f : dom(f) → ℝ könnten wir immer annehmen, dass dom(f) = ℝ gilt. Denn für alle messbaren A ⊆ ℝ2 ist A ∪ (ℝ × { 0 }) messbar mit gleichem Maß. Alternativ kann man in der Definition von A+ die Bedingung „0 < y < f (x)“ verwenden und damit die x-Achse als neutralen Bereich der signierten Flächenmessung kennzeichnen. In diesem Umfeld taucht weiter folgende Frage auf: In der Definition des Integrals haben wir die Funktionswerte selber nicht in die zu messende Fläche mit aufgenommen. Könnten wir dies tun? Im Hinblick auf das Ergebnis von Sierpiński, dass eine reelle Funktion als Graph nicht notwendig λ2-messbar ist, ist diese Frage keineswegs überflüssig. Zum Glück ist sie aber zu bejahen:
Satz (die Graphen von integrierbaren Funktionen sind λ2-Nullmengen)
Sei f : ℝ → ℝ ± ∞-integrierbar. Dann ist f ∈ ℒ2 und folglich λ2(f) = 0.
Beweis
Es genügt zu zeigen (!):
(+) Sei g : [ a, b ] → ℝ+0 integrierbar. Dann ist g ∈ ℒ2.
Sei also g wie in (+). Für alle c ∈ ℝ+ ist dann die Funktion gc : [ a, b ] → ℝ mit gc(x) = g(x) + c integrierbar und es gilt L(gc) = L(g) + |b − a| · c, denn nach Translationsinvarianz von λ2 ist
L(gc) = λ2(A+(gc)) = λ2(A+(g) ∪ [ a, b ] × [ − c, 0 ]) = L(g) + |b − a| · c.
Insbesondere ist A+(g1/n) ∈ ℒ2 für alle n ≥ 1 und folglich auch
⋂n ≥ 1 A+(g1/n) = { (x, y) | 0 ≤ x ≤ g(x) } = A+(g) ∪ g ∈ ℒ2,
und damit g ∈ ℒ2 (und nach obiger Überlegung λ2(g) = 0).
Eine andere Frage betrifft die horizontalen Schnitte der Flächenmengen einer integrierbaren Funktion. Eine Übung oben zeigte, dass die horizontalen Schnitte von Lebesgue-messbaren Teilmengen des ℝ2 nicht notwendig Lebesgue-messbar für λ sind. Der natürlichen Frage, ob etwa für t ≥ 0 die Schnitte
Bt = { x ∈ dom(f) | (x, t) ∈ A+(f) } = { x ∈ dom(f) | t < f (x) }
der Flächenmengen einer integrierbaren Funktion f in ℒ sind, werden wir uns unten bei der Diskussion des analytischen Lebesgue-Integrals noch zuwenden.
Sofort zu sehen ist:
Satz (Integrierbarkeit stetiger Funktionen)
Sei f : [ a, b ] → ℝ stetig. Dann ist f integrierbar.
Beweis
Die Flächenmengen A+(f) und A−(f) ohne die x-Achse und ohne die linken und rechten Randpunkte der Form (a, y) und (b, y) sind offene Teilmengen des ℝ2, falls f stetig ist, und damit in ℒ2.
Andererseits ist beispielsweise auch die Indikatorfunktion der rationalen Zahlen integrierbar mit Integral 0. Das Lebesgue-Integral sieht Veränderungen einer Funktion an abzählbar vielen Stellen generell als unbedeutend an, und speziell die Funktion indℚ ist aus der Sicht des Lebesgue-Integrals gleichwertig mit der Nullfunktion. Möglich wird diese abzählbare Unschärfe durch die σ-Additivität des zugrunde liegenden Maßes.
Übung
Sei f : ℝ+ → ℝ mit f (x) = sin(x)/x. Dann gilt:
(i) | f ist nicht Lebesgue-integrierbar. |
(ii) | limb → ∞, b > 0 L(f; 0, b) existiert. |
[ Eine Skizze ist hilfreich. zu (i): Die von f eingeschlossenen Flächen oberhalb und unterhalb der x-Achse haben jeweils unendliches Lebesgue-Maß; benutze hierzu ∑n ≥ 1 1/n = ∞.
zu (ii): Leibniz-Kriterium für alternierende Reihen. ]
Eigenschaften des geometrischen Integrals
Einige Eigenschaften des geometrischen Integrals sind einfach zu zeigen:
Sind f, g : ℝ → [ − ∞, ∞ ] integrierbar und gilt f (x) ≤ g(x) für alle x ∈ ℝ, so ist L(f) ≤ L(g). Dies folgt unmittelbar aus der Monotonie von λ2.
Ist f integrierbar und c ∈ ℝ, so ist cf integrierbar und es gilt L(cf) = c L(f). Es genügt wieder, diese Aussage für positive f und c zu zeigen. Für A ⊆ ℝ2 sei (für dieses Argument) cA = { (x, cy) | (x, y) ∈ A } die Streckung von A entlang der y-Achse um den Faktor c. Nach Definition von cf ist dann A+(cf) = c A+(f). Weiter gilt λ2(cA) = cλ2(A) für alle offenen und abgeschlossenen Mengen A (de facto für alle A ∈ ℒ2). Hieraus folgt die Behauptung.
Wir können dagegen nicht leicht zeigen, dass L(f + g) = L(f) + L(g) für alle integrierbaren f und g gilt. Bereits die Integrierbarkeit von f + g ist nicht offensichtlich. Denkt man über einen Beweis nach, so sieht man, dass die Aussage für konstante g noch leicht einzusehen ist, und allgemeiner wird man zur Betrachtung von integrierbaren Treppenfunktionen h = ∑E ∈ ℰ aE indE geführt, wobei ℰ ⊆ ℒ eine abzählbare Menge paarweise disjunkter Mengen ist. Damit führt der Wunsch, die Linearität für das geometrische Lebesgue-Integral zu zeigen, zur Frage nach der Approximierbarkeit von integrierbaren Funktionen durch Treppenfunktionen. Diese treten innerhalb der analytischen Definition des Maßes auf, und damit wird die Linearität dann leicht zu zeigen sein.
Die Linearität L(f + g) = L(f) + L(g) erscheint bei diesem Ansatz als eine erstaunliche Aussage über das Maß λ2: Seien f, g : [ 0, 1 ] → [ 0, 1 ], A = A+(f) die Flächenmenge von f und B = { (x, y) | 0 ≤ x ≤ 1, 1 ≤ y ≤ 1 + g(x) } die um Eins nach oben verschobene Flächenmenge von B. Dann gilt L(f) + L(g) = λ2(A) + λ2(B) = λ2(A ∪ B) wegen Translationsinvarianz. Die Aussage L(f + g) = L(f) + L(g) bedeutet nun: Schieben wir die senkrechten Schnitte ({ x } × ℝ) ∩ B = { x } × [ 1, 1 + g(x) ] von B für jedes x ∈ [ 0, 1 ] soweit nach unten, dass sie die Menge A berühren, konkret also um 1 − f (x), so ist die entstehende Gesamtfläche C messbar für λ2 und hat immer noch das Maß λ2(A) + λ2(B). Die Menge B fällt unter dieser Betrachtungsweise quasi auf die obere Kante von A herab, ohne gestaucht zu werden: Sie behält ihr Maß, denn es gilt λ2(B) = λ2(C − A). Ist etwa B ein Vollquader (für g = ind[ 0, 1 ]) und A die durch f (x) = x gegebene schiefe Fläche, so ist B nach dem freien und ungestauchten Fall auf A das Parallelogramm { (x, y) | 0 ≤ x ≤ 1, x ≤ y ≤ 1 + x }, das natürlich immer noch Fläche 1 hat. Im Allgemeinen kann die obere Kante von A, d. h. der Graph von f, aber sehr kompliziert sein, und dann ist der Erhalt der Flächen keineswegs mehr klar. In diesem Sinne ist die Linearität des Integrals eine weitreichende Aussage über eine flächentreue Operation im ℝ2.