Die analytische Definition des Lebesgue-Integrals

 Lebesgue selbst definierte sein Integral bevorzugt durch eine Zerlegung des Wertebereichs beschränkter Funktionen, was den Unterschied zum Riemann-Integral besonders klar herausstellt. Wir diskutieren nun noch diese von Lebesgue analytisch genannte Definition seines Integrals und zeigen die Äquivalenz zur geometrischen Definition.

 Das Lebesgue-Integral lässt sich in seinem analytischen Gewande als konzeptionelle Neuordnung der Riemann-Summen bestechend suggestiv beschreiben: Für das Riemann-Integral zerlegen wir den Definitionsbereich von f in Intervalle. Im analytischen Lebesgue-Integral zerlegen wir dagegen den Wertebereich von f in Intervalle. Anschließend werden die Urbilder der Werteintervalle mit Hilfe das Längenmaßes λ gemessen und die Ergebnisse dieser Messungen werden mit einer „Stützstelle“ aus den zugehörigen Werteintervallen multipliziert; schließlich werden in einer „Lebesgue-Summe“ alle diese Einzelprodukte aufsummiert. Die Urbildmessung mit λ ist offenbar nicht für alle Funktionen f möglich − man betrachte etwa die Indikatorfunktion einer Menge wie im Satz von Vitali. Wir definieren als Summe dieser Überlegungen:

Definition (Lebesgue-messbare Funktion)

Sei f : dom(f)  , dom(f) ⊆ , eine Funktion. f heißt (Lebesgue-)messbar, falls für alle a, b  ∈   gilt: f −1″ [ a, b [  ∈  .

 Die Verwechslung von Lebesgue-messbar im Sinne dieser Definition und der Messbarkeit von f ⊆ 2 für λ2 ist in der Regel nicht zu befürchten. Im zweiten Fall reden wir, wie oben schon, immer von der λ2-Messbarkeit von f.

 Man zeigt sofort, dass für eine messbare Funktion auch die Urbilder offener und abgeschlossener Intervalle messbare Teilmengen von  sind. Für eine disjunkte Zerlegung des Wertebereichs bieten sich aber halb offene Intervalle an. Einzelne Punkte können große Urbilder haben, und deswegen schließen wir Überlappungen aus.

 Ist f messbar, so sind auch alle Mengen { x  ∈  dom(f) | f (x) = t } messbar. Auch dom(f) selbst ist messbar, denn dom(f) = ⋃z  ∈   f −1″ [ z, z + 1 [. Zum Nachweis der Messbarkeit genügt weiter ein Beweis von f −1″ [ q, ∞ [  ∈   für alle q  ∈   (!).

 Elementare Argumente zeigen: Sind f und g messbar mit dom(f) = dom(g), so sind auch cf für c  ∈   sowie f + g und f · g messbar. Ist g(x) ≠ 0 für alle x  ∈  dom(g), so ist auch f/g messbar. Weiter ist jede stetige Funktion messbar, da für diese Funktionen die Urbilder offener Intervalle offene Mengen und damit messbar sind. Ist f stetig und g messbar, so ist auch f ∘ g messbar. (Es gibt Lebesgue-messbare f und g derart, dass f ∘ g nicht Lebesgue-messbar ist. Solche Funktionen fallen bei der erwähnten Konstruktion eines stetig monoton wachsenden g : [ 0, 1 ]  [ 0, 1 ] mit g−1″ A  ∉   für ein A  ∈   mit ab.)

 Die σ-Additivität von λ führt weiter zu folgender Vertauschungsregel für punktweise Limiten:

Übung

Sei A ⊆ , und seien fn : A   messbare Funktionen, die punktweise gegen eine Funktion f : A   konvergieren, d. h. es gilt lim ∞ fn(x) = f (x) für alle x  ∈  A. Dann ist f messbar.

 Wie für das Lebesgue-Maß gilt überall die Freiheit, modulo einer Nullmenge zu rechnen. So bleibt etwa obige Übung richtig, wenn die punktweise Konvergenz für die Punkte einer Menge B ⊆ A mit λ(B) = 0 verletzt ist.

 Wir betrachten im Folgenden beschränkte Funktionen f : [ a, b ]  . Dieser Rahmen lässt sich später leicht verallgemeinern.

 Zunächst definieren wir einen allgemeinen Partitionsbegriff:

Definition (Partitionen mit Stützstellen)

Sei [ a, b ] ein reelles Intervall mit a < b, und sei δ  ∈  +.

Eine Partition von [ a, b ] der Feinheit δ ist eine endliche Folge 〈 ti, xi | i ≤ n 〉 mit der Eigenschaft:

(i)

a  =  t0  ≤  x0  ≤  t1  ≤  x1  ≤  …  ≤  tn  ≤  xn  ≤  b.

(ii)

ti + 1 − ti  ≤  δ  für alle i  ≤  n, wobei tn + 1 := b.

Die ti heißen auch die Zerlegungspunkte der Partition und die xi heißen auch die Stützstellen der Partition.

 Damit definieren wir nun:

Definition (Lebesgue-Summe)

Sei f : [ a, b ]  [ d, e [ eine Lebesgue-messbare Funktion, und sei p = 〈 ti, yi | i ≤ n 〉 eine Partition von [ d, e ].

Dann ist die Lebesgue-Summe von f bzgl. p definiert als:

Λ p f  =  i ≤ n yi · λ(f −1″[ ti, ti + 1 [).

Definition (analytische Definition des Lebesgue-Integrals)

Sei f : [ a, b ]  [ d, e [ eine Lebesgue-messbare Funktion.

f heißt Lebesgue*-integrierbar, falls ein c  ∈   existiert mit:

(+) Für alle ε > 0 existiert ein δ  ∈  + mit:
p f  −  c|  <  ε  für alle Partitionen p von [ d, e ] der Feinheit δ.

c heißt dann das Lebesgue*-Integral von f, in Zeichen c = L*(f).

Lebesgue (1966)

„The geometers of the seventeenth century considered the integral of f (x) − the word ‘integral’ had not been invented, but that does not matter − as the sum of an infinity of indivisibles, each of which was the ordinate, positive or negative, of f (x). Very well! We have simply grouped together the indivisibles of comparable size. We have, as one says in algebra, collected similar terms. One could say that, according to Riemann’s procedure, one tried to add the indivisibles by taking them in the order in which they were furnished by the variation in x, like an unsystematic merchant who counts coins and bills at random in the order in which they came to hand, while we operate like a methodical merchant who says:

I have m(E1) pennies which are worth 1 · m(E1),

I have m(E2) nickels worth 5 · m(E2),

I have m(E3) dimes worth 10 · m(E3), etc.

Altogether then I have

S  =  1 · m(E1)  +  5 · m(E2)  +  10 · m(E3) + …

 The two procedures will certainly lead the merchant to the same result because no matter how much money he has there is only a finite number of coins or bills to count. But for us who must add an infinite number of indivisibles the difference between the two methods is of capital importance.“

 Die verfeinerte Methode wird aus pragmatischer Sicht mit einem hohen technischen Aufwand erkauft: Das „Gruppieren ähnlicher Terme“, d. h. die Betrachtung von E(a, b) = f −1″ [ a, b [, setzt den Begriff der Messbarkeit voraus. Wir müssen, in der Sprache des Vergleichs von Lebesgue, wissen, wie viele Münzen wir haben, deren Wert zwischen a und b liegt, um den Wert aller dieser Münzen angeben zu können. Die Urbilder E(a, b) können sehr kompliziert sein.

 Dass Lebesgue Riemann in die Nähe eines etwas bodenständigen Kaufmanns rückt, der seine Post linear abarbeitet, ist nicht nur ikonolatrisch bedenklich: Die Lebesguesche Integration bricht mit dem alten und bis heute in der Mathematik zentralen Prinzip, eine Funktion global zu untersuchen, indem sie überall lokal analysiert wird, d. h. in jedem kleinen Intervall ihres Definitionsbereichs. Wir werden unten zudem eine Verallgemeinerung des Riemann-Integrals besprechen, die viele der guten Eigenschaften des Lebesgue-Integrals aufweist.

 Es zeigt sich, dass die Lebesgue*-Integrierbarkeit bereits aus der Lebesgue-Messbarkeit folgt, und dass die neue Definition des Integrals mit der alten geometrischen zusammenfällt, und wir also den Stern weglassen können. Dies wollen wir nun beweisen. Hierzu betrachten wir:

Definition (untere und obere Partition)

Sei p = 〈 ti, yi | i ≤ n 〉 eine Partition von [ d, e ].

p heißt eine untere Partition, falls yi = ti für alle i ≤ n gilt.

p heißt eine obere Partition, falls yi = ti + 1 für alle i ≤ n gilt (mit tn + 1 = e).

 Obere und untere Partitionen schreiben wir kurz als 〈 ti | i ≤ n 〉, da sich die Stützstellen aus dem Typ der Partition ergeben. Wie erwartet gilt:

Übung

Sei f : [ a, b ]  [ d, e [ Lebesgue-messbar.

Weiter seien p und p′ eine untere bzw. obere Partition von [ d, e ].

Dann gilt  Λ p f  ≤  Λ p′ f.

 Wir zeigen:

Satz (Integrierbarkeit beschränkter Lebesgue-messbarer Funktionen)

Sei f : [ a, b ]  [ d, e [ eine Lebesgue-messbare Funktion.

Dann ist f Lebesgue*-integrierbar.

Beweis

Es gilt:

(+)  supp untere Partition von [ d, e ] Λ p f  ≤  infp obere Partition von [ d, e ] Λ p f.

Ist nun p irgendeine Partition von [ d,  e ], und sind pu und po die untere bzw. obere Partition von [ d, e ], die die gleichen Zerlegungspunkte wie p haben, so gilt weiter

(++)  Λ pu f  ≤  Λ p f  ≤  Λ po f.

Hat weiter p die Feinheit δ, so gilt nach Definition der Lebesgue-Summe:

Λpo f  −  Λpu f  ≤  i ≤ n δ · λ(f −1″ [ ti, ti + 1 [)  =  δ  ·  λ([ a, b ]).

Dies konvergiert gegen Null, falls δ gegen Null konvergiert.

Also ist das Supremum in (+) gleich dem Infimum in (+), etwa gleich c  ∈  .

Mit (++) folgt dann die Behauptung: c ist das Lebesgue*-Integral von f.

 Der Beweis zeigt: L*(f) ist gleich dem Supremum der Summen über untere Partitionen und gleich dem Infimum der Summen über obere Partitionen. Weiter ist L*(f) gleich dem Limes der Summen über eine beliebige Folge von Partitionen, deren Feinheit gegen Null konvergiert. Damit können wir insbesondere bei der Berechnung des Integrals Partitionen mit bestimmten Eigenschaften zugrunde legen, etwa solche, die das Intervall [ d, e ] in gleich große Teile zerlegen.

 Da wir die 0 als Stützpunkt der Lebesgue-Summen wählen können, gilt im Falle der Messbarkeit klarerweise:

L*(f)  =  L*(f +)  −  L*(f ).

 Wie die geometrische Definition kann man also auch die analytische Definition des Lebesgue-Integrals als einen zweistufigen signierten Messprozeß auffassen.

 Der Schlüssel zur Äquivalenz der beiden Definitionen ist nun die nicht überraschende, aber keineswegs triviale Messbarkeit von positiven Funktionen, deren mit der x-Achse eingeschlossene Fläche durch das Maß λ2 gemessen werden kann. Dies besagt der folgende Satz von Lebesgue:

Satz (geometrische Integrierbarkeit und Messbarkeit)

Sei f  : dom(f)   Lebesgue-integrierbar (im geometrischen Sinn), und es sei dom(f)  ∈  . Dann ist f Lebesgue-messbar.

Beweis

Es genügt, die Aussage für Funktionen f zu zeigen mit rng(f) ⊆ [ 0, ∞ [ (denn mit f sind auch f + und f integrierbar, und aus der Messbarkeit von f + und f folgt die Messbarkeit von f).

Weiter dürfen wir annehmen, dass dom(f) beschränkt in  ist (denn f −1″ [ t, ∞ [ = ⋃z  ∈   (f|[ z, z + 1 [)−1″ [ t, ∞ [).

Wir setzen für t ≥ 0:

Bt  =  f −1″ [ t, ∞ [  =  { x  ∈  dom(f) | f (x) ≥ t }.

Wir zeigen, dass Bt  ∈   für alle t ≥ 0 gilt. Dies genügt.

Für alle t ≥ 0 gilt:

(i)

λ(Bt)  ≤  λ+(Bt)  <  ∞.

(ii)

λ(Bt) und λ+(Bt) sind monoton fallend in t.

(iii)

limδ  0, 0 ≤ δ < t λ(Bt − δ)  =  λ(Bt).

[ Vgl. obige Zusammenstellung der Eigenschaften von λ und λ+. ]

Annahme, es existiert ein s > 0 mit λ+(Bs)  −  λ(Bs)  >  0.

Nach (i) − (iii) existieren dann 0 < δ < s und ε > 0 mit der Eigenschaft:

(+)  λ+(Bt)  −  λ(Bt)  >  ε  für alle t  ∈  [ s − δ, s ].

Sei A = { (x, y)  ∈  2 | x  ∈  dom(f),  0 ≤ y ≤ f (x) } (= A(f) ∪ f).

Dann ist A  ∈  2 nach Voraussetzung (und dem Satz oben, dass f  ∈  2).

Wir setzen

A*  =    ×  [ s − δ, s ]  ∩  A.

Dann ist auch A*  ∈  2. Also existieren U, C ⊆ 2 mit:

(a)

U ⊇ A* ist offen, 

(b)

C ⊆ A* ist abgeschlossen,

(c)

λ2(U)  −  λ2(C)  <  δ · ε.

Für t ≥ 0 sei Xt =  × { t }. Dann gilt für alle t  ∈  [ s − δ, s ]:

U ∩ Xt  ⊇  A* ∩ Xt = { (x, t) | x  ∈  dom(f), f (x) ≥ t } = Bt × { t }  ⊇  C ∩ Xt.

Schließlich folgt mit (+) hieraus für alle t  ∈  [ s − δ, s ]:

(++)  λ( { x | (x, t)  ∈  U ∩ Xt − C })  >  ε,

denn die Projektionen von U ∩ Xt und C ∩ Xt auf die x-Achse wären sonst zu genaue offene äußere und abgeschlossene innere Messungen von Bt.

Damit enthält aber die offene Menge U − C im δ-Streifen [ s − δ, s ] durchweg eindimensionale Horizontale mit Lebesgue-Maß ≥ ε. Folglich gilt λ2(U − C) ≥ δ · ε nach der Sektionsregel für offene Mengen,

im Widerspruch zu (c).

Damit ist also λ+(Bs) = λ(Bs), also Bs  ∈   für alle s > 0.

Aber B0 = dom(f)  ∈   nach Voraussetzung.

 Auf die Voraussetzung dom(f)  ∈   kann nicht verzichtet werden. Denn sei B  ∉  , und sei f die Nullfunktion auf B. Dann ist f geometrisch Lebesgue-integrierbar mit Integral Null, aber f ist nicht Lebesgue-messbar.

 Wir geben noch einen zweiten Beweis des Satzes, der statt der Sektionsregel die Produktregel für das äußere und innere Maß verwendet. Entscheidend ist wieder die Schnittstetigkeit des inneren Maßes.

zweiter Beweis des Satzes

Sei wieder o. E. f : dom(f)  [ 0, ∞ [, dom(f) beschränkt in .

Wir setzen zudem wieder

A =  { (x, y)  ∈  2 | x  ∈  dom(f),  0 ≤ y ≤ f (x) }, und
Bt =  f −1″ [ t, ∞ [  =  { x  ∈  dom(f) | f (x) ≥ t }  für t ≥ 0.

Sei nun t > 0 beliebig. Für 0 < δ < t sei

Aδ  =    ×  [ t − δ, t ]  ∩  A.

Dann gilt für alle 0 < δ < t, dass Bt × [ t − δ, t ] ⊆ Aδ ⊆ Bt − δ × [ t − δ, t ], also

δ λ+(Bt)  ≤  (λ2)+(Aδ)  =  λ2(Aδ) = (λ2)(Aδ)  ≤  δ λ(Bt − δ),

denn (λ2)+(Bt × [ t − δ, t ]) = δ λ+(Bt) und (λ2)(Bt − δ × [ t − δ, t ]) = δ λ(Bt − δ) nach der Produktregel. Damit gilt also für alle 0 < δ < t, dass:

λ+(Bt)  ≤  λ(Bt − δ).

Nach der Schnittstetigkeit von λ ist dann aber

λ+(Bt)  ≤  limδ  0, 0 ≤ δ < t λ(Bt − δ)  =  λ(Bt).

Stets gilt λ(Bt) ≤ λ+(Bt). Also gilt für alle t > 0, dass λ+(Bt) = λ(Bt), d. h. es gilt Bt  ∈   für alle t > 0. Nach Voraussetzung ist zudem B0  ∈  .

 Dies war bereits die Hauptarbeit für:

Satz (Äquivalenz der geometrischen und der analytischen Integral-Definition)

Sei f : [ a, b ]  [ d, e [ eine Funktion. Dann sind äquivalent:

(i)

f ist Lebesgue-integrierbar (nach der geometrischen Definition),

(ii)

f ist Lebesgue-messbar (und damit Lebesgue*-integrierbar).

Weiter gilt dann L(f) = L*(f).

Beweis

zu (i)  (ii):  haben wir bereits gezeigt.

zu (ii)  (i) und L*(f) = L(f):

Es genügt wieder, die Aussage für positive Funktionen zu zeigen.

Sei A = A+(f) = { (x, y)  ∈   | x  ∈  [ a, b ],  0 ≤ y < f (x) }.

Sei pn = 〈 tni | i ≤ n 〉 eine Folge von unteren Partitionen von [ d, e ], deren Feinheit gegen Null konvergiert. (Die n-te Partition zerlegt also [ d, e ] in n Teile; wir sparen dadurch einfach einen Index.)

Für n  ∈   seien:

fn =  0 ≤ i ≤ n tni  ·  indf −1″[  tni, tni + 1 [,
An =  { (x, y)  ∈   | x  ∈  [ a, b ],  0 ≤ y < fn(x) }.

Sei n  ∈  . Dann gilt An = ⋃i ≤ n f −1″ [ tni, tni + 1 [  ×  [ 0, tni [  ⊆  A.

Wegen f Lebesgue-messbar ist f −1″ [ tni, tni + 1 [  ∈   für alle i ≤ n, und damit An  ∈  2. Klarerweise gilt:

(+)  L*(fn)  =  λ2(An)  =  L(fn).

Da die Partitionen beliebig fein werden, gilt weiter A = ⋃n  ∈   An.

Dann ist aber A  ∈  2, da 2 eine σ-Algebra ist.

Also ist f geometrisch Lebesgue-integrierbar mit L(f) = λ2(A).

Aus (+) folgt weiter, dass

L*(f)  =  lim ∞ L*(fn)  =  lim ∞ λ2(An)  =  λ2(A)  =  L(f).

 Die analytische Definition des Integrals lässt sich auch auf gewisse unbeschränkte Funktionen durch Trunkierung und Grenzwertbildung erweitern. Für eine Funktion f : A  [ 0, ∞ ], A ⊆ , und n  ∈   definieren wir die trunkierte Funktion f ∧ n : A   durch (f ∧ n)(x)  =  min(f (x), n). Das Integral L(f) kann nun für unbeschränkte Funktionen f : [ a, b ]  [ 0, ∞ ] im Falle der Existenz durch L(f) = lim ∞ L(f ∧ n) definiert werden. Wie üblich wird die Definition via Zerlegung in Positiv- und Negativteil nun noch auf gewisse Funktionen f : [ a, b ]  [ − ∞, ∞ ] ausgedehnt. Eine zweite erweiternde Limeskonstruktion durch Trunkierung des Definitionsbereiches erlaubt es schließlich, auch gewisse Funktionen integrieren zu können, deren Definitionsbereich eine Menge A mit λ(A) = ∞ ist.

 Damit ist nun insbesondere relativ leicht zu zeigen:

Übung

Für integrierbare f, g :    ist f + g integrierbar und L(f + g) = L(f) + L(g).

 Weiter erhalten wir:

Satz

Sei f :   [ 0, ∞ ]. Dann gilt:

f ist ± ∞-integrierbar  gdw  f ist Lebesgue-messbar.

Die moderne Form der analytischen Definition

 Oftmals wird das Lebesgue-Integral heute in einer insbesondere durch die Arbeiten von Young motivierten Variante der analytischen Definition eingeführt. Wir skizzieren noch die Grundschritte dieser Definition; der Leser findet sie in der neueren Literatur an vielen Stellen im Detail vorgeführt (etwa [ Elstrodt 2007 ]).

 Die Integral-Definition verläuft wieder über eine Zerlegung einer Funktion f : dom(f)   in Positiv- und Negativteil: f = f + − f . Es genügt also, das Integral für Funktionen f :   [ 0, ∞ ] zu definieren. Wir können ∞ als Funktionswert von Beginn an zulassen.

 Wir definieren wie zuvor das Lebesgue-Maß λ und anschließend den Begriff der messbaren Funktion über λ-messbare Urbilder von Intervallen. Die Schlacht wird nun elegant mit dem Söldnerheer der Treppenfunktionen gewonnen:

Definition (Treppenfunktion oder einfache Funktion)

Sei f :   [ 0, ∞ ] Lebesgue-messbar. f heißt eine Treppenfunktion oder eine einfache Funktion, falls rng(f) endlich ist.

 Eine Treppenfunktion f ist also eine Funktion der Form

(+)  f  =   i ≤ n ci indAi

mit ci  ∈  [ 0, ∞ ] und A0, …, An  ∈   (wobei man die Mengen A0, …, An als Zerlegung von  annehmen kann, aber nicht muss). Die Ai sind i. A. keine Intervalle; so ist etwa ind eine Treppenfunktion. Zu einer anschaulichen „Treppe“ werden also diese Funktionen erst nach einer abstrakten Umordnung von .

 Für eine Treppenfunktion f wie in (+) setzt man:

L(f)  =  i ≤ n ci λ(Ai)   (wobei 0 · ∞ = 0),

und zeigt, dass dies wohldefiniert ist.

 Die Konstruktion ins Rollen bringt nun der folgende Satz:

Satz (Approximations- und Abgeschlossenheitssatz)

Sei f  :   [ 0, ∞ ]. Dann sind äquivalent:

(i)

f ist Lebesgue-messbar.

(ii)

Es existieren Treppenfunktionen fn  :   [ 0, ∞ ], n  ∈  , die punktweise monoton wachsend gegen f konvergieren.

 Man setzt nun für ein Lebesgue-messbares f  :   [ 0, ∞ ]:

L(f)  =  supn  ∈   L(fn),

für eine beliebige Folge von Treppenfunktionen fn wie im Approximationssatz. Nicht völlig trivial ist der Nachweis der Wohldefiniertheit. Offenbar gilt:

L(f)  =  supg Treppenfunktion, g ≤ f L(g).

 Schließlich erweitert man die Definition für messbare f :   [ − ∞, ∞ ] durch L(f) = L(f +) − L(f ), wieder vorausgesetzt, dass die Differenz Sinn ergibt. Ist dann |L(f)| < ∞, so heißt wieder L(f) Lebesgue-integrierbar.

 Bei diesem Ansatz steht die Approximation durch Treppenfunktionen im Vordergrund. Der Nachweis, dass alle Lebesgue-integrierbaren Funktionen eine bestimmte Eigenschaft haben, wird schnell zu einer Routineangelegenheit, die die Eigenschaft für nichtnegative Treppenfunktionen und dann für ihre punktweisen monotonen Limiten beweist, die notorische f  +-, f -Zerlegung einmal beiseite gelassen.

 Alle drei Konstruktionen haben ihre Vorteile: Die geometrische Definition stellt die klassische Tradition der Flächenmessung in den Vordergrund. Die analytische Definition nach Lebesgue zeigt klar die konzeptionellen Unterschiede zum Riemann-Integral (s. u.). Die Variante der analytischen Definition nach Young approximiert in monotoner Weise eine integrierbare Funktion durch, modulo des Maßes λ, besonders einfache Funktionen, die sich in einem Summenkalkül sehr gut beherrschen lassen. Die geometrische Definition arbeitet von vornherein mit dem Flächenmaß λ2, die beiden anderen Definitionen kennen nur λ, und eine durch ein Maß fassbare geometrische Bedeutung ergibt sich erst a posteriori. (Im Falle der modernen analytischen Definition ist die geometrische Bedeutung aber klar für Treppenfunktionen und sie ergibt sich dann allgemein durch monotone Approximation mit Treppenfunktionen.)