Intermezzo:
Zur Geschichte der Analysis

Wir sammeln einige wichtige Stationen der Geschichte der reellen Analysis bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Analysis hätte hier, nach dem Kapitel über irrationale Zahlen und vor dem Kapitel über die Mächtigkeitstheorie Cantors, ihren Platz. Damit ist dieses kurze Zwischenspiel gewissermaßen der historische Anhang eines „fehlenden Kapitels“ zur Analysis, deren elementare Kenntnis wir beim Leser voraussetzen.

 Die Entwicklung des Kontinuumsbegriffs diskutieren wir später ausführlicher im dritten Kapitel.

 Der historisch interessierte Leser ist aufgerufen, sich über diese informal präsentierte Auswahl hinaus in den umfassenden Darstellungen der Geschichte der Naturwissenschaften weiter zu informieren. Im anschließenden Literaturverzeichnis finden sich hierzu einige weiterführende Titel.

 Die Geschichte der Entdeckung der Inkommensurabilität durch die Pythagoreer haben wir im ersten Kapitel schon angesprochen. Wir beginnen mit:

3.  Jahrhundert vor Chr.  Hellenistische Mathematik

 Mit Euklid beginnt der erste Anlauf in Europa, einen wissenschaftlichen Kulturkern zu etablieren. Er veröffentlicht um 300 v. Chr. das bislang wohl einflussreichste mathematische Lehrbuch der Weltliteratur, die vermutlich in Alexandria verfassten „Elemente“. Sie stellen mit ihren dreizehn Teilen eine Sammlung des damaligen Wissens dar. In den Elementen gibt es insbesondere Abschnitte über quadratische Gleichungen und irrationale Zahlen. Auch die Proportionslehre des Eudoxos findet Eingang. Das vielleicht wichtigste Merkmal der Elemente ist aber der Aufbau des dargestellten Stoffes. Er ist deduktiv-axiomatisch, und damit ein Vorläufer der heutigen mathematischen Grundlagenforschung.

 Die herausragenden Mathematiker des Hellenismus nach Euklid sind dann Archimedes und der etwas jüngere Apollonius. Apollonius verdanken wir eine ausgearbeitete Theorie der Kegelschnitte. Archimedes führte komplexe Volumen- und Flächenberechnungen durch, ohne dabei allerdings echte Grenzübergänge zu verwenden oder zu allgemeinen Integrationsregeln vorzudringen. Archimedes gilt allgemein als der Gauß der Griechen. Seine Arbeiten nehmen wichtige Elemente der Infinitesimalrechnung vorweg. Sein Stil ist der heute übliche: Der mühsam freigeschlagene Weg, der zu den mathematischen Resultaten geführt hat, wird zumeist wieder der Verwilderung preisgegeben und eine möglichst direkte, knappe, bereinigte, später gefundene Darstellung bevorzugt. Interessant ist, dass sich Archimedes in seiner Anfang des 20. Jahrhunderts als Palimpsest aufgefundenen „Methode“ explizit hierzu äußert. Er diskutiert dort heuristische Methoden, mit denen ein Resultat vor einem strengen Beweis gefunden werden soll. In einem zweiten Schritt kann dann der eigentliche Beweis gesucht werden. Neben einer hoch entwickelten, technisch ausgefeilten Mathematik wird hier also bereits über die Mathematik selbst und die mathematische Tätigkeit reflektiert. Die Mathematik des Archimedes umfasst: Berechnungen von π und des Volumens von Kugeln und Rotationskörpern, Konvexitätsbegriff, Formel für die Fläche der Ellipse, Hebelgesetze, Untersuchungen von Parabeln, Archimedische Spirale. Daneben technische Erfindungen und auch Kriegszeug, das allerdings bei der Belagerung von Syrakus gegen die Römer eingesetzt wurde und so dem Mathematiker, über seinen sprichwörtlichen Kreisen sitzend, den Tod brachte.

 Das hellenistische Zentrum der Aktivitäten in Mathematik, Physik, Astronomie, Medizin und Technologie ist Alexandria. Die dortige Bibliothek mit 700000 Schriftrollen brennt (so wird oft berichtet) bei der Eroberung der Stadt durch Caesar im Jahr 47 v. Chr.

Mathematik bei den Römern

 Helmuth Gericke schreibt:

Gericke (1984): 

„Irgendwo habe ich gelesen: Der einzige Beitrag, den die Römer zur Mathematikgeschichte geleistet haben, war der, dass ein römischer Soldat den Archimedes erschlagen hat. − In der Tat sind Fortschritte in der theoretischen Mathematik bei den Römern nicht zu finden; sie haben sich mehr für die praktischen Anwendungen interessiert.“

 Charles Edwards hat einen Konkurrenzvorschlag:

Edwards (1979): 

„[ Archimedes ] requested that on his tombstone be carved a sphere inscribed in a right circular cylinder whose height equals its diameter. When the Roman orator Cicero was later serving as quaestor in Sicily, he found and restored the tomb with this inscription. The Romans had so little interest in pure mathematics that this action by Cicero was probably the greatest single contribution of any Roman to the history of mathematics.“

 Kontrastierend zur Grabpflege lässt der römische Kaiser Justinian 529 die Platonische Akademie in der Nähe von Athen schließen, die dort seit fast 1000 Jahren bestanden hatte. Die Begründung lautet „alles Heiden“.

6. − 13. Jahrhundert  Frühes Mittelalter und arabische Umwege

 Das Mittelalter ist im Vergleich zur Blütezeit der griechischen Mathematik arm an mathematischer Forschung und auch an der Bewahrung des antiken mathematisch-naturwissenschaftlichen Erbes zunächst wenig interessiert. Gericke beschreibt das „Schicksal der Mathematik im Mittelalter“ als „… das Überleben eines Restes der griechischen Kultur und die Wiedergewinnung all dieser Kenntnisse“ [ Gericke 1990, S. V ]. Erst ab dem Ende des 13. Jahrhunderts führen Spekulationen über Unendlichkeit zu neuen Ideen und bereiten die Flut von Limesbildungen der späteren Analysis vor.

 Alexandria fällt Mitte des 7. Jahrhunderts an die Araber. Diese übersetzen viele wissenschaftliche Werke des Hellenismus ins Arabische, von wo aus sie dann ab dem 11. Jahrhundert zurück ins Abendland geholt und ins Lateinische übertragen werden (siehe etwa [ Toomer 1984 ]). Weiter erreichen original indisch-arabische Beiträge die europäische Landschaft, allen voran das ökonomische Notationssystem der arabischen Kaufleute.

9. Jahrhundert  Al-Khwarizmi: Algebra und Algorithmen

 Der Perser Abu Al-Khwarizmi verfasst ein Buch mit dem Titel „Al-Kitab al-muhtasar fi hisab al-gabr wa’l-muqabala“, „Ein kurzgefasstes Buch über Rechenverfahren durch Ergänzen und Ausgleichen“. Der Zweck ist rein praktischer Natur: Als intendierte Leser nennt der Autor all die, die sich bei Erbschaften, Handelsgeschäften und beim Ausmessen der Ländereien mit Rechenaufgaben konfrontiert sehen.

 Aus „al-gabr“ wird das heutige Wort „Algebra“. Mutmaßlich ist darüber hinaus der Name des Arabers auch der Ursprung für „Algorithmus“.

14. Jahrhundert  Untersuchungen der Scholastik

 Die Scholastik diskutiert nun intensiv die Probleme der Unendlichkeit, oft allerdings immer noch eher philosophisch und theologisch als mathematisch. Eine Expedition ins Ungewisse beginnt, die die griechischen Mathematiker, die jede nichtkonstruierende Form der Mathematik ablehnten, immer gescheut hatten. Nikolaus von Oresme untersucht Bewegungen von Körpern mit Hilfe graphischer Darstellungen. Einen Höhepunkt bilden seine „Questiones super geometriam Euclidis“, in denen er geometrische Reihen studiert und weiter auch beweist, dass die harmonische Reihe 1 + 1/2 + 1/3 + … divergiert. Roger Bacon, Albert von Sachsen u. a. kommen dem Grundgedanken der bijektiven Zuordenbarkeit bemerkenswert nahe. Diskutiert und kritisiert wird weiter die Aristotelische Auffassung, dass ein Kontinuum nicht aus einzelnen Atomen/Punkten bestehen könne.

1545  Gleichungen dritten und vierten Grades und komplexe Zahlen

 Cardano veröffentlicht seine „Ars magna de regulis algebraicis“. Es finden sich darin die Lösungsformeln für Gleichungen dritten und vierten Grades, sowie die erste überlieferte Rechnung mit komplexen Größen: Cardano rechnet (5 + 15) · (5 − 15) = 40. Um die Lösungsformel für kubische Gleichungen entbrennt ein Prioritätsstreit mit Tartaglia. Cardano hatte ihm wohl geschworen, seine Formel nicht vor ihm zu veröffentlichen. In der Tat wurde die Lösungsformel für kubische Gleichungen zuerst von del Ferro (1515) und Tartaglia (1535) gefunden, und die Lösungsformel für Gleichungen vierten Grades geht auf Ferrari zurück. Unabhängig von der Lorbeerverteilung bleibt festzuhalten: Man konnte nun endlich etwas, was die Griechen definitiv nicht konnten. Selbstvertrauen für eine neue Epoche.

zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts  Notationen und Dezimalbruchschreibweise

 Nach und nach lösen die in Deutschland gebräuchlichen Zeichen „+“ und „−“ die italienischen Alternativen „p“ und „m“ ab. Die Rechnungen enthalten mehr und mehr Formeln, wenn auch der Charakter des verkürzten umgangssprachlichen Ausdrucks erhalten bleibt.

 Die Dezimaldarstellung setzt sich schließlich durch − ein kleines Detail mit großen Auswirkungen. In der Tat steht der Durchbruch am Ende einer komplizierten Entwicklung, und was uns als Stück aus einem Guss erscheint, blickt auf einen langen Weg zurück.

1591  Parameter und Variable

 Vieta unterscheidet klar zwischen Parametern und Variablen in Gleichungen. Er verwendet Vokale für Variable und Konsonanten für Parameter.

1614  Logarithmen

 Napier entdeckt das Logarithmieren zur Vereinfachung von komplexen Berechnungen. Er stellt 1614, kurz vor Ende seines Lebens, seine Tafeln in einem Werk mit dem hübschen Titel „Mirifici logarithmorum canonis descriptio“ der Öffentlichkeit vor. Posthum erscheint auch die Methode zur Auffindung der Werte. Auf Napier geht weiter die Schreibweise zurück, eine reelle Zahl durch Angabe ihres ganzzahligen und ihres Bruchanteils anzugeben, getrennt durch ein Komma oder einen Punkt.

erste Hälfte des 17. Jahrhunderts   Vorabend der Infinitesimalrechnung

 Kepler untersucht 1615 Volumina von Rotationskörpern, und nimmt dabei infinitesimale Methoden vorweg. Fermat untersucht 1629 Maxima und Minima von Funktionen, und geht damit einen weiteren Schritt hin zur Infinitesimalrechnung: Funktionen ändern sich in der Umgebung von Minima und Maxima nur wenig. Vermehrt werden nun auch Tangenten von Kurven betrachtet, wobei die Volumen- und Flächenberechnung klar im Vordergrund steht. Historisch steht das Integral vor dem Differential, im Gegensatz zum heute üblichen Aufbau eines Analysislehrbuches.

 Cavalieri benutzt 1635 „unendlich kleine“ Raumsegmente zur Volumenberechnung in seiner Abhandlung „Geometria indivisibilibus“. Er stellt das Cavalierische Prinzip auf: Haben alle parallel zur Grundebene verlaufenden Schnitte zweier dreidimensionaler Körper das gleiche Flächenverhältnis, so stehen auch die Volumina dieser Körper in diesem Verhältnis. Er vermutet, in heutiger Sprache formuliert, dass das Integral über die Funktion f (x) = xn über das Intervall [ 0, a ] den Wert a(n + 1)/(n + 1) hat. Diese Formel und ihre Ausdehnung auf allgemeinere Exponenten bilden fortan ein Zentrum des Interesses in Arbeiten von Fermat, Pascal und Wallis. 1658 kommt Pascal bei seiner Untersuchung der trigonometrischen Funktionen der Entdeckung der eigentlichen Infinitesimalrechnung sehr nahe.

1637  Beginn der analytischen Geometrie

 Descartes untersucht in einem 1637 erschienenen Werk den Zusammenhang zwischen Lösungen von Gleichungen mit zwei Variablen und geometrischen Objekten. Zu gegebenen Kurven in der Ebene sucht er korrespondierende algebraische Ausdrücke f(x, y), deren Lösungen f(x, y) = 0 die Kurve bilden. Geometrische Objekte können damit analytisch untersucht werden, was heute beinahe als Selbstverständlichkeit gilt. Fermat geht etwa zur gleichen Zeit den umgekehrten Weg und bestimmt geometrische Eigenschaften von Kurven ausgehend von algebraischen Ausdrücken (veröffentlicht 1679). Er klassifiziert in dieser Weise etwa Kegelschnitte in Abhängigkeit von den Parametern einer Gleichung f(x, y) = 0 zweiten Grades. Auf Descartes gehen viele heute noch übliche Notationen zurück: die Zeichen x, y, z für Variable, a, b, c, … für Parameter sowie die Notation xn für die Exponentiation.

ab 1665  Entwicklung der Infinitesimalrechnung durch Leibniz und Newton, Prioritätsstreit

 Leibniz und Newton entdecken unabhängig voneinander die Infinitesimalrechnung. Bei Leibniz stehen rein mathematische Aspekte im Vordergrund, Newton wendet seine Theorie hauptsächlich auf physikalisch motivierte Fragestellungen an. Es entsteht die „Newtonsche Mechanik“.

 Als Startpunkt kann man die Entdeckung der binomischen Reihenentwicklung von (1 + x)α durch Newton 1665 angeben. Allgemein interessiert man sich in den folgenden Jahrzehnten für die Reihenentwicklung einer Funktion, um sie dann gliedweise differenzieren und integrieren zu können. 1666 formuliert Newton zum ersten Mal einen Zusammenhang zwischen dem Integral und dem Differential einer Funktion, was dann schließlich im Hauptsatz der Analysis kulminiert: Integrieren und Differenzieren sind inverse Operationen. Newton bestimmt die Reihenentwicklung der Sinus- und Cosinusfunktion, kennt die Kettenregel für das Differenzieren und verwendet intensiv die Substitutionsregel für das Integrieren. Er stellt Integrationstabellen zusammen. Weiter berechnet er mit seiner neuen Methode die Längen von Kurvenabschnitten. Newtons physikalisches Hauptwerk erscheint 1687, eine isolierte Darstellung seiner mathematischen Analysis erst 1704. Daneben erlangt Newtons Sicht der Dinge Bekanntheit durch die Bücher von Wallis.

 Einige Resultate von Newton erreichen Leibniz in Briefform 1676. In einem Antwortschreiben notiert Leibniz die Reihe π/4 = 1 − 1/3 + 1/5 − 1/7 + 1/9 − … Um diese Zeit hatte Leibniz bereits seine Version der Infinitesimalrechnung entwickelt. 1675 kennt er die Produktregel für das Differenzieren, zwei Jahre später dann auch die Quotientenregel. Er publiziert seine Theorie in den 80er und 90er-Jahren des 17. Jahrhunderts. Leibniz rechnet intensiv mit infinitesimalen Größen. Ganz unabhängig von Fragen ihrer Existenz betont er, dass seine Resultate durch wesentlich mühsamere Rechnungen auch in eine Form gebracht werden könnten, die dem strengen Blick der traditionellen griechischen Mathematik genügen würden. So erscheinen die unendlich kleinen Größen als geschicktes Kondensat immer wiederkehrender Argumente. Später führt dann die freie Verwendung infinitesimaler Größen zu einer Explosion der Ergebnisse, wobei einige versteckte Fallen erst später bekannt werden. (Vgl. hierzu auch die Diskussion zur Entwicklung des Kontinuumsbegriffs in Kapitel 3.)

 Das Wort „infinitesimal“ für „unendlich klein“, die heute übliche dx/dy-Notation sowie das an eine Summe erinnernde Integralzeichen gehen auf Leibniz zurück. Besonders in der Physik ist aber daneben auch noch die Punktnotation von Newton für die zeitliche Ableitung einer Funktion gebräuchlich. Den daneben üblichen Strich für die Ableitung hat erst Lagrange 1797 populär gemacht. 1715 führt Taylor die heute nach ihm benannten Reihen ein, und markiert damit den Schlusspunkt eines Abschnitts, der die Mathematik und die Physik auf eine neue Stufe gestellt und diese beiden Disziplinen miteinander verbunden hatte.

 Die Entdeckung der Infinitesimalrechnung ist auch der Schauplatz eines hitzigen Prioritätsstreits: Der Newton-Verehrer Nicolas Fatio de Duillier und weiter dann John Keill, der zuweilen als „Newtons Kampfross“ bezeichnet wird, bezichtigten Leibniz des Plagiats. Leibniz rief die Royal Society zur Klärung an. Ihr Vorsitzender verfasste 1712 als Vorstand einer von ihm eigens einberufenen Kommission einen Bericht, der die Plagiatsvorwürfe noch unterstrich. Dieser Vorsitzende der Royal Society war Newton selber, die beschuldigenden Schlussworte des Berichts sind in seiner Handschrift verfasst. (Vgl hierzu auch [ Laemmel 1957 ] und [ Edwards 1979 ]. Der Fall ist auch literarisch anregend: Carl Djerassi hat hierüber sein Theaterstück „Kalkül“ verfasst.)

 Heute scheint sich folgendes Bild zu stabilisieren: Newton entdeckte die ersten wesentlichen Elemente der Theorie gegen 1664, Leibniz unabhängig davon gegen 1672. Leibniz hat dagegen seinen Kalkül vor Newton veröffentlicht. Man darf ruhig von einer unabhängigen Entdeckung reden.

 Der Streit hatte durch seine Schärfe Auswirkungen auf die Entwicklung der Mathematik:

Edwards (1979): 

„An irony of the English ‘victory’ in the Newton-Leibniz dispute was that English mathematicians, in steadfastly following Newton and refusing to adopt Leibniz’ analytical methods, effectively closed themselves off from the mainstream of progress in mathematics for the next century. Although Newton’s spectacular applications of mathematics to scientific problems inspired much of the eighteenth century progress in mathematics, these advances came mainly at the hands of continental mathematicians using the analytical machinery of Leibniz’ calculus, rather than the methods of Newton.“

 Zur gleichen Einschätzung des Falls kommt Victor Katz, vgl. [ Katz, 1998 ].

 Eine Vision von Leibniz war die Entwicklung einer formalen Universalsprache zur Unterstützung und Durchführung logischer Untersuchungen, und dieses philosophische Leitbild spielte eine entscheidende Rolle bei der Formulierung und Entwicklung seiner Mathematik. Das Ziel war wahrhaft hochgesteckt: In der symbolischen Universalsprache sollten sich alle Belange des menschlichen Denkens formulieren und durch Berechnung entscheiden lassen, wobei die Berechnung in einer syntaktischen Manipulation der symbolisierten Aussage besteht.

 Am ehesten verwirklicht ist diese Vision von Leibniz heute in der Prädikatenlogik erster Stufe, mit einem klassischen Deduktionskalkül und einem interpretativ leistungsfähigen Axiomensystem wie dem der Mengenlehre. Während die Ausdrucksfähigkeit dieser formalen Sprache für mathematische Belange enorm ist, ist die algorithmische Lösung von mathematischen Problemen dagegen nur sehr eingeschränkt möglich, wie die Unentscheidbarkeitsresultate im Umfeld der Gödelschen Unvollständigkeitssätze zeigen. Zur Lösung mathematischer Probleme ist im Allgemeinen „unberechenbare“ Kreativität nötig, und in diesem Sinne ist die Vision von Leibniz widerlegt. Den symbolischen Kalkül auch auf die Naturwissenschaften und die Philosophie ausdehnen zu wollen, wie es Leibniz vorschwebte, erscheint aus heutiger Sicht übertrieben.

 Leibniz trug auch konkret zur Realisierung von automatischen Berechnungen bei: Er baute eine Rechenmaschine zur Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division und zum Wurzelziehen.

1696  Lehrbuch von l’Hospital

 In einem Buch mit dem aussagekräftigen Titel „Analyse des infiniment petits pour l’intelligence des lignes courbes“ gibt l’Hospital eine erste Lehrbuch-Darstellung der Infinitesimalrechnung. Es findet sich darin unter anderem die bekannte l’Hospitalsche Regel, die de facto von seinem Lehrer Johann Bernoulli gefunden wurde.

1748  Lehrbuch von Euler

 Euler, der dominierende Mathematiker des 18. Jahrhunderts, veröffentlicht sein zweibändiges Werk „Introductio in analysin infinitorum“, das einen Meilenstein in der Geschichte der mathematischen Literatur bildet. Es darf als erstes modernes Lehrbuch der Mathematik gelten, und es unterscheidet sich von den heutigen Büchern nicht wesentlich. Ab diesem Buch enden die unsäglichen Qualen eines heutigen Lesers, der sich für die Originalliteratur interessiert. Euler diskutiert in seinem Werk ausführlich die Zahl e = 1/0! + 1/1! + 1/2! + 1/3! + … und die Exponentialfunktion ex. Daneben stehen die trigonometrischen Funktionen im Zentrum. Das Buch ist auch ein entscheidender Schritt in der Entwicklung des modernen Funktionsbegriffs. Euler definiert Funktionen allgemein als „analytische Ausdrücke“ in einer Variablen.

1807  Fourier-Reihen

 Fourier begründet in einem Vortrag der Pariser Akademie der Wissenschaften die heute nach ihm benannte Theorie der Entwicklung einer Funktion mit Hilfe der Sinus- und Cosinusfunktion als Basismaterial. Er veröffentlicht die Theorie in Buchform 1822. Dirichlet erkennt 1829 die mögliche totale Unstetigkeit des Limes einer konvergenten Fourierreihe. Konvergenz- und Stetigkeitsfragen sind auf dem Tapet.

1813  Gauß: Konvergenz von Reihen

 Gauß untersucht sehr detailliert die Konvergenz der sog. hypergeometrischen Reihe. Dieudonné schreibt: „Die Untersuchung der Konvergenz oder Divergenz [ dieser Reihe ] hat die Ära der Strenge in der Analysis eröffnet.“

1817  Bolzanos Beiträge zur Analysis

 Bolzano beweist in „Rein analytischer Beweis des Lehrsatzes, dass zwischen zwei Werten, die ein entgegengesetztes Resultat gewähren, wenigstens eine reelle Wurzel der Gleichung liege“ den Zwischenwertsatz. In der Arbeit findet sich weiter der erste Versuch einer formalen Definition der Stetigkeit einer Funktion: f ist stetig für alle x eines Intervalls, falls, „wenn x irgend ein solcher Wert ist, der Unterschied f(x + ω) − f (x) kleiner als jede gegebene Größe gemacht werden könne, wenn man ω so klein, als man nur immer will, annehmen kann.“ Die Arbeit enthält weiter zum ersten Mal eine Formulierung des sog. Cauchyschen Konvergenzkriteriums für konvergente Reihen.

 Die Wirkung der Arbeit von Bolzano ist nicht besonders groß. Es ist umstritten, ob Cauchy sie gekannt hat − bei der Verfassung von:

1821  Lehrbuch von Cauchy

 Cauchys „Cours d’Analyse“ erscheint. Cauchy etabliert damit eine neue Stufe an mathematischer Genauigkeit, auch wenn er selber zuweilen noch über die Unterschiede zwischen „stetig“ und „gleichmäßig stetig“ stolpert. Die Definition der Stetigkeit einer Funktion in einem Punkt x lautet hier: f ist stetig in x, wenn der Betrag von f(x − α) − f (x) mit „α zugleich so abnimmt, dass er kleiner wird als jede endliche Zahl.“

1823  Integralbegriff von Cauchy

 Cauchy gibt zum ersten Mal eine strenge Definition des Integrals einer stetigen Funktion. Wie vor ihm Leibniz und Newton untersucht Cauchy keine allgemeinen Funktionen, betrachtet werden allenfalls endlich viele Polstellen. Die Frage, für welche Funktion das Cauchysche Summationsverfahren ein Integral liefert, stellt erst Riemann:

1854  Riemann-Integral

 Riemann entwickelt in seiner Habilitationsschrift „Über die Darstellbarkeit einer Funktion durch eine trigonometrische Reihe“ seine heute nach ihm benannte Integrationstheorie samt dem Begriff der „Integrierbarkeit“ schlechthin (veröffentlicht durch Dedekind in [ Riemann 1867 ]). Vorausgegangen war ein intensives Studium von Fourier-Reihen mit ihren unstetigen Grenzfunktionen.

1861  Stetige nirgendwo differenzierbare Funktionen

 Weierstraß gibt in einer Vorlesung in Berlin Funktionen an, die überall stetig, aber nirgendwo differenzierbar sind (später veröffentlicht in [ Weierstraß 1875 ]). Bolzano hatte bereits in den 1830er-Jahren eine solche Funktion gefunden, aber erst die Beispiele von Weierstraß wurden populär:

n ≥ 0 bn cos(anπ x),  mit a  ∈  , a ungerade, b  ∈  ] 0, 1 [, ab > 1 + 3/2 π.

Das Ergebnis verstieß völlig gegen die damalige Intuition, die sich allenfalls diskret verteilte „Knicke“ in stetigen Funktionen vorstellen konnte. Das Beispiel trug dazu bei, dass die Grundlagen der Analysis kritischer untersucht wurden.

1872  Konstruktionen von

 Im selben Jahr erscheinen die Konstruktionen von Dedekind, Cantor und Heine der reellen Zahlen. Erst ab diesem Zeitpunkt liegt eine genaue mathematische Definition einer irrationalen Zahl vor. (Wir gehen im dritten Kapitel hierauf ausführlich ein.)

1872  Epsilontik bei Heine

 Eduard Heine, unter dem Einfluss seines Lehrers Weierstraß, definiert die Stetigkeit einer Funktion in einem Punkt in seinen „Elementen der Funktionenlehre“ wie folgt:

Heine (1872): 

„§ 2. Bedingungen der Kontinuität.

1. Definition. Eine Funktion f (x) heißt bei einem bestimmten einzelnen Werte x = X kontinuierlich, wenn, für jede noch so klein gegebene Größe ε, eine andere positive Zahl η0 von solcher Beschaffenheit existiert, dass für keine positive Größe η, die kleiner als η0 ist, der Zahlwert von f(X ± η) − f (X) das ε überschreitet.“

 Vgl. hierzu auch die obigen Definitionen bei Bolzano und Cauchy.

 Die dieser Definition nachfolgenden Ausführungen bei Heine sind heute Grundbausteine aller Lehrbücher: Äquivalenz der ε-δ-Stetigkeit zur Folgenstetigkeit, Bestimmtheit einer stetigen Funktion durch ihre Werte auf , Definition der Stetigkeit und auch der gleichmäßigen Stetigkeit auf Intervallen [ a, b ], Zwischenwertsatz, Annahme von Minimum und Maximum, gleichmäßige Stetigkeit stetiger Funktionen auf Intervallen [ a, b ]. Damit hatte die elementare Analysis im Wesentlichen ihre heutige Form gefunden.

 Topologische Begriffsbildungen finden sich erst viel später, die Definition eines metrischen und topologischen Raumes gab Hausdorff 1914. Ebenso gehört das Lebesgue-Integral bereits in das 20. Jahrhundert. Wir kommen in Kapitel 5 darauf zurück.