Die Borel-Hierarchie
Für einen topologischen Raum 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 setzt man:
ℬ(𝒳) = σ(𝒰) = ⋂ { 𝒜 | 𝒜 ist eine σ-Algebra auf X mit 𝒰 ⊆ 𝒜 }.
ℬ(𝒳) heißt die σ-Algebra der Borel-Mengen von 𝒳 oder die Borelsche σ-Algebra auf X. ℬ(𝒳) ist die kleinste σ-Algebra auf X, die die offenen Mengen enthält. Diese Algebra existiert immer, da der Schnitt von σ-Algebren auf X wieder eine σ-Algebra auf X ist (und da ℘(X) eine σ-Algebra 𝒜 auf X ist mit 𝒰 ⊆ 𝒜). Die Komplexität und innere Natur der Borelschen σ-Algebra wird durch diese Schnittdefinition „von oben“ nicht besonders deutlich.
Der Leser vergleiche die beiden Darstellungen des von zwei Vektoren u, v im ℝ3 erzeugten Untervektorraumes U als
U = ⋂ { V ⊆ ℝ3 | V ist ein Unterraum von ℝ3 mit u, v ∈ V }, | „von oben“ |
U = { λu + μv | λ, μ ∈ ℝ }. | „von unten“ |
Die zweite Darstellung vermittelt durch ihre bloße Form ein Bild davon, wie U aussieht. In komplizierteren Beispielen verläuft eine Definition „von unten“ rekursiv: Wir sammeln schrittweise immer mehr Objekte, bis die Gesamtheit der gesammelten Objekte die gewünschten Reichhaltigkeitseigenschaften hat.
Wir werden die Borel-Mengen eines metrisierbaren Raumes nun in einer Hierarchie der Länge ω1 anordnen und so ein sehr klares Bild dieser σ-Algebra erhalten. Startend mit den offenen Mengen bilden wir durch die Operationen „Komplement, abzählbarer Schnitt, abzählbare Vereinigung“ immer kompliziertere Mengen. Die offenen und abgeschlossenen und weiter dann die Fσ- und Gδ-Mengen des Raumes nehmen so die ersten Stufen der Hierarchie ein. Wir werden zeigen, dass wir für jeden metrisierbaren Raum durch ω1-viele Iterationen der drei Operationen zur Borelschen σ-Algebra des Raumes gelangen können − und dass weniger als ω1-viele Schritte i. A. nicht genügen.
Die Voraussetzung der Metrisierbarkeit des Raumes garantiert gute Inklusionseigenschaften der Hierarchie. Wichtig ist die folgende einfache Beobachtung (der wir im zweiten Kapitel schon begegnet sind):
Übung
Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein metrisierbarer topologischer Raum. Dann ist jede offene Menge eine Fσ-Menge (und jede abgeschlossene Menge eine Gδ-Menge).
[ Sei U ∈ 𝒰. Für U = X ist die Aussage klar. Sei also U ≠ X. Wir setzen wieder:
d(x, X − U) = inf({ d(x, y) | y ∉ U }) | für alle x ∈ X, und weiter |
An = { x ∈ U | d(x, X − U) ≥ 1/2n } | für alle n ∈ ℕ. |
Dann sind alle An abgeschlossen und es gilt U = ⋃n ∈ ℕ An. ]
Es ist nützlich, für die drei genannten Operationen eine kompakte Notation zur Verfügung zu haben.
Definition (𝒜σ , 𝒜δ , 𝒜c)
Sei X eine Menge, und sei 𝒜 ⊆ ℘(X). Dann setzen wir:
𝒜σ | = { ⋃ ℬ | | ℬ ⊆ 𝒜 ist abzählbar }, |
𝒜δ | = { ⋂ ℬ | | ℬ ⊆ 𝒜 ist abzählbar }, |
𝒜c | = { X − P | | P ∈ 𝒜 }. |
Wir verwenden hier die Konvention ⋂ ∅ = X. Auch 𝒜c ist nur sinnvoll, wenn das betrachtete „Ganze“ X aus dem Kontext heraus klar ist.
Diese Notationen wurden von Hausdorff eingeführt. Sie sind konsistent mit den vertrauten Sprechweisen „Fσ-Menge“ und „Gδ-Menge“: Traditionell setzt man F = { P ⊆ X | P ist abgeschlossen } und G = { P ⊆ X | P ist offen }. Die Buchstaben F und G stehen hier für „fermé“ bzw. für „Gebiet“.
Für alle 𝒜 ⊆ ℘(X) gilt: (𝒜c)c = 𝒜, (𝒜σ)σ = 𝒜σ, (𝒜δ)δ = 𝒜δ. Weiter ist 𝒜 genau dann eine σ-Algebra auf X, wenn 𝒜σ = 𝒜δ = 𝒜c = 𝒜 gilt.
Wir können nun die Borel-Hierarchie sehr ansprechend definieren: Wir iterieren die σ-δ-c-Operationen ω1-oft, beginnend mit den offenen bzw. abgeschlossenen Mengen eines metrisierbaren Raumes. Ziel ist, einen Zustand zu erreichen, an welchem die drei Operationen keine neuen Mengen mehr erzeugen. Es ist an dieser Stelle nicht klar, dass ein überabzählbar langer transfiniter Weg nötig ist, um dieses Ziel zu erreichen.
Definition (Borel-Hierarchie)
Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein metrisierbarer topologischer Raum.
Dann definieren wir durch Rekursion über 1 ≤ α < ω1:
Σ01(𝒳) | = 𝒰, |
Π01(𝒳) | = 𝒰c = { A ⊆ X | A abgeschlossen }, |
Σ0α(𝒳) | = (⋃1 ≤ β < α Π0β(𝒳))σ für α ≥ 2, |
Π0α(𝒳) | = (⋃1 ≤ β < α Σ0β(𝒳))δ für α ≥ 2. |
Die Folge 〈 Σ0α(𝒳), Π0α(𝒳) | 1 ≤ α < ω1 〉 heißt die Borel-Hierarchie von 𝒳.
Weiter setzen wir für 1 ≤ α < ω1:
Δ0α(𝒳) | = Σ0α(𝒳) ∩ Π0α(𝒳). |
Diese Definition findet sich in [ Hausdorff 1914 ] (wobei Hausdorff die transfinite Länge des Prozesses zunächst nicht klar herausstellt). Die Begriffsbildung bringt insgesamt Ideen von Borel, Baire, Young, Lebesgue und Hausdorff zum Ausdruck.
Die Σ-Π-Notation stammt aus der mathematischen Logik und wurde erst später eingeführt. Ihr Ursprung erklärt, warum wir bei α = 1 starten und nicht wie sonst üblich bei α = 0.
Mit den klassischen Bezeichnungen gilt also (mit 𝒜σ, δ = (𝒜σ)δ usw.):
Σ01 = G, Π01 = F, Σ02 = Fσ, Π02 = Gδ, Σ03 = Gδ, σ, Π03 = Fσ, δ, usw.
Ist z. B. Ui, j, k offen und Ai, j, k abgeschlossen in X für alle i, j, k ∈ ℕ, so gilt für
P | = ⋂i ∈ ℕ ⋃j ∈ ℕ ⋂k ∈ ℕ Ui, j, k, | Q | = ⋃i ∈ ℕ ⋂j ∈ ℕ ⋃k ∈ ℕ Ai, j, k, |
R | = ⋂i ∈ ℕ ⋃j ∈ ℕ ⋂k ∈ ℕ Ai, j, k, | S | = ⋃i ∈ ℕ ⋂j ∈ ℕ ⋃k ∈ ℕ Ui, j, k, |
dass P ∈ Π04(𝒳), Q ∈ Σ04(𝒳), R ∈ Π03(𝒳), S ∈ Σ03(𝒳). Anhand derartiger Darstellungen kann man die Komplexität einer Menge endlicher Borel-Komplexität oft nach oben abschätzen, indem man zählt, wie oft Schnitte und Vereinigungen abwechseln, und offenen und abgeschlossenen Mengen die Grundkomplexität 1 zuweist (es gilt auch R ∈ Π04(𝒳) und S ∈ Σ04(𝒳), wobei man dann die Komplexität von R und S überschätzt). Ein Schnitt zu Beginn führt immer zu einem „Π“, eine Vereinigung immer zu einem „Σ“. Einige Beispiele für Komplexitätsberechnungen sind:
Übung
(a) | Sei g : ℝ → ℝ eine Funktion, und sei P = { x ∈ ℝ | g ist stetig in x }. Dann ist P ∈ Π02(ℝ) (unter der üblichen Topologie auf ℝ). |
(b) | Sei P = { f ∈ 𝒩 | f (n) = 0 unendlich oft }. Dann ist P ∈ Π02(𝒩) − Σ02(𝒩). |
(c) | Seien a, b ∈ ℝ mit a < b. Wir setzen: X = { f : [ a, b ] → ℝ | f ist stetig }, P = { f ∈ X | die erste Ableitung von f existiert auf ganz [ a, b ] }. Wir versehen X mit der von der Supremumsnorm erzeugten Topologie 𝒰. Dann ist P ∈ Π03(〈 X, 𝒰 〉). |
Wir stellen im folgenden Satz einige häufig verwendete Merkmale der Borel-Architektur zusammen.
Satz (einfache Eigenschaften der Borel-Hierarchie)
Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein metrisierbarer Raum.
Dann gilt für alle 1 ≤ α < ω1:
(i) | Σ0α(𝒳) ∪ Π0α(𝒳) ⊆ Δ0α + 1(𝒳). |
(ii) | Π0α(𝒳) = Σ0α(𝒳)c , Π0α + 1(𝒳) = Σ0α(𝒳)δ , Σ0α + 1(𝒳) = Π0α(𝒳)σ , Δ0α(𝒳) = Δ0α(𝒳)c . |
(iii) | Σ0α(𝒳) ist abgeschlossen unter abzählbaren Vereinigungen und endlichen Schnitten. Dual ist Π0α(𝒳) abgeschlossen unter abzählbaren Schnitten und endlichen Vereinigungen. |
Der Beweis dieses Satzes ist eine einfache Induktion nach α (mit 1 ≤ α < ω1). Nach der Übung oben gilt z. B. Σ01(𝒳) ⊆ Σ02(𝒳), also Σ01(𝒳) ⊆ Δ02(𝒳), da offenbar auch Σ01(𝒳) ⊆ Σ01(𝒳)δ = Π02(𝒳).
Die Urbilder offener Mengen unter stetigen Funktionen sind nach Definition der Stetigkeit offen. Der folgende Satz verallgemeinert diese Aussage.
Satz (Komplexität von stetigen Urbildern)
Seien 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 und 𝒴 = 〈 Y, 𝒱 〉 metrisierbare Räume, und sei g : X → Y stetig. Dann gilt für alle 1 ≤ α < ω1:
(i) | { g−1″ P | P ∈ Σ0α(𝒴) } ⊆ Σ0α(𝒳), |
(ii) | { g−1″ P | P ∈ Π0α(𝒴) } ⊆ Π0α(𝒳). |
Der Komplexitätsgrad des Urbildes einer Borel-Menge P unter einer stetigen Funktion ist also höchstens so groß wie der Komplexitätsgrad von P. Der Beweis ist eine einfache Induktion nach α unter Verwendung der guten Eigenschaften der Urbildoperation, etwa der Gleichung g−1″ ⋂ ℬ = ⋂ { g−1″ B | B ∈ ℬ } für alle ℬ ⊆ ℘(Y), die für die Bildoperation i. A. nicht gilt.
Wir zeigen nun, dass die „von unten“ definierte Borel-Hierarchie genau die „von oben“ definierte Borelsche σ-Algebra ausschöpft:
Satz (Ausschöpfung der Borel-Mengen durch die Borel-Hierarchie)
Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein metrisierbarer Raum. Dann gilt:
ℬ(𝒳) = ⋃1 ≤ α < ω1 Σ0α(𝒳) ∪ Π0α(𝒳).
Beweis
Sei ℬ = ℬ(𝒳) und sei
ℬ′ = ⋃1 ≤ α < ω1 Σ0α(𝒳) ∪ Π0α(𝒳).
ℬ′ ⊆ ℬ: ℬ ist eine σ-Algebra mit Σ01 = 𝒰 ⊆ ℬ. Für 𝒜 ⊆ ℬ ist also 𝒜σ, 𝒜δ, 𝒜c ⊆ ℬ. Durch Induktion über 1 ≤ α < ω1 folgt dann, dass Σ0α(𝒳), Π0α(𝒳) ⊆ ℬ. Also ist ℬ′ ⊆ ℬ.
ℬ ⊆ ℬ′: Es gilt 𝒰 = Σ01 ⊆ ℬ′. Es genügt also zu zeigen, dass ℬ′ eine σ-Algebra ist. Wegen Π0α(𝒳)c = Σ0α(𝒳) für 1 ≤ α < ω1 ist ℬ′ abgeschlossen unter Komplementbildung. Sei also 𝒜 ⊆ ℬ′ abzählbar. Für P ∈ 𝒜 sei
α(P) = „das kleinste α mit P ∈ Δ0α“.
Dann ist β = sup({ α(P) | P ∈ 𝒜 }) < ω1 wegen 𝒜 abzählbar.
Also ist ⋃ 𝒜 ∈ Σ0β(𝒳) ⊆ ℬ′ und ⋂ 𝒜 ∈ Π0β(𝒳) ⊆ ℬ′.
Als Korollar zum obigen Satz über die Komplexität von Urbildern erhalten wir: Die Urbilder von Borel-Mengen unter stetigen Funktionen sind Borel-Mengen.
Wir betrachten schließlich noch die Borel-Hierarchie einer Relativ- und einer Produkttopologie.
Übung
Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein metrisierbarer Raum, und sei Y ⊆ X.
Sei 𝒴 = 〈 Y, 𝒰|Y 〉. Dann gilt für alle 1 ≤ α < ω1:
(i) | Σ0α(𝒴) | ⊇ Σ0α(𝒳)|Y (= { Z ∩ Y | Z ∈ Σ0α(𝒳) }), |
(ii) | Π0α(𝒴) | ⊇ Π0α(𝒳)|Y. |
Ist Y abgeschlossen in X, so gilt Gleichheit in (ii) für α ≥ 1 und Gleichheit in (i) für α ≥ 2. Analoges gilt für Y offen in X. Insbesondere gilt also Gleichheit für alle 1 ≤ α < ω1, falls Y offen und abgeschlossen in X ist.
Übung
Seien 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉, 𝒴 = 〈 Y, 𝒱 〉 metrisierbare topologische Räume, und seien A ∈ Σ0α(𝒳), B ∈ Σ0α(𝒴), C ∈ Π0α(𝒳), D ∈ Π0α(𝒴) für ein 1 ≤ α < ω1.
Dann gilt A × B ∈ Σ0α(𝒳 × 𝒴) und C × D ∈ Π0α(𝒳 × 𝒴).
Universelle Mengen
Wir zeigen, dass die Inklusionen der Borel-Hierarchie über einem polnischen Raum, der eine Kopie des Cantorraumes 𝒞 enthält, echt sind. Insbesondere werden also für ℝ, 𝒩, 𝒞 tatsächlich ω1-viele Schritte benötigt, um ausgehend von den offenen Mengen durch iterierte Anwendung der σ-δ-c-Operationen die Borelsche σ-Algebra zu erzeugen.
Der Schlüssel zu diesem Resultat ist der Begriff einer universellen Menge.
Definition (universelle Mengen)
Seien X, Y Mengen, und sei U ⊆ X × Y. Weiter sei Γ ⊆ ℘(X).
U heißt universell für Γ (bzgl. Y), falls gilt:
Γ = { Uy | y ∈ Y }, wobei Uy = { x | (x, y) ∈ U } (die „y-Zeile“ von U).
Übung
Sei Γ ⊆ ℘(X), und sei U ⊆ X × Y universell für Γ.
Dann ist (X × Y) − U universell für Γc = ℘(X) − Γ.
Wir zeigen nun die Existenz gleichgradig komplexer universeller Mengen für die Stufen der Borel-Hierarchie. Der Cantorraum dient als „Zeilenspeicher“.
Satz (Existenz gleichgradig komplexer universeller Mengen)
Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒱 〉 ein separabler metrisierbarer Raum, und sei 1 ≤ α < ω1.
Dann existiert eine Menge U ⊆ X × 𝒞 mit:
(i) | U ∈ Σ0α(X × 𝒞), |
(ii) | U ist universell für Σ0α(𝒳). |
Eine analoge Aussage gilt für Π0α(𝒳).
Der folgende Beweis ist im Grunde ein einfaches Jonglieren mit universellen Mengen auf den Stufen der Borel-Hierarchie. Wir führen die Argumente aber ausführlich aus, wodurch der Beweis länger erscheint, als er ist.
Beweis
Wir zeigen die Aussagen durch Induktion nach 1 ≤ α < ω1.
Induktionsanfang α = 1
Sei V0, V1, …, Vn, …, n ∈ ℕ, eine Aufzählung einer Basis von 𝒳.
Für f ∈ 𝒞 sei dann V(f) = ⋃n ∈ ℕ, f (n) = 1 Vn. Wir setzen:
U = { (x, f) ∈ X × 𝒞 | x ∈ V(f) }.
Dann gilt:
(+) U ist offen in X × 𝒞.
Beweis von (+)
Sei (x, f) ∈ U, und sei n ∈ ℕ derart, dass x ∈ Vn und f (n) = 1 gilt.
Dann ist Vn × Cf|(n + 1) ⊆ U. Also ist U offen in X × 𝒞.
(++) U ist universell für 𝒱 = Σ01(𝒳).
Beweis von (++)
Sei V ⊆ X offen. Für n ∈ ℕ sei
Dann ist V = V(f) und damit
V = V(f) = { x ∈ X | (x, f) ∈ U } = Uf.
Also ist U universell für 𝒱.
Nach (+) und (++) ist U ∈ Σ01(𝒳 × 𝒞) universell für Σ01(𝒳).
Weiter ist X × 𝒞 − U ∈ Π01(𝒳 × 𝒞) universell für Π01(𝒳).
Induktionsschritt 1 < α < ω1
Sei π : ℕ2 → ℕ die Cantorsche Paarungsfunktion.
Für f ∈ 𝒞 und n ∈ ℕ sei f n ∈ 𝒞 definiert durch
f n(m) = f(π(n, m)) für alle m ∈ ℕ.
Seien α0 ≤ α1 ≤ … ≤ αn ≤ …, n ∈ ℕ, Ordinalzahlen mit
α = sup { αn + 1 | n ∈ ℕ }.
Nach Induktionsvoraussetzung existiert für alle n ∈ ℕ ein Un ∈ Π0αn(𝒳 × 𝒞), das universell für Π0αn(𝒳) ist. Wir setzen:
U = { (x, f) ∈ X × 𝒞 | (x, f n) ∈ Un für ein n ∈ ℕ }.
Dann gilt:
(+) U ∈ Σ0α(𝒳 × 𝒞).
Beweis von (+)
Wir setzen Pn = { (x, f) ∈ X × 𝒞 | (x, f n) ∈ Un } für alle n ∈ ℕ.
Dann ist U = ⋃n ∈ ℕ Pn. Es genügt also zu zeigen, dass Pn ∈ Π0αn(𝒳 × 𝒞) für alle n ∈ ℕ.
Sei also n ∈ ℕ. Wir setzen g(x, f) = (x, f n) für x ∈ X, f ∈ 𝒞.
Dann ist g : X × 𝒞 → X × 𝒞 stetig, und es gilt:
Pn = g−1″ Un.
Aber Un ∈ Π0αn(𝒳 × 𝒞). Wegen g stetig also auch Pn ∈ Π0αn(𝒳 × 𝒞).
(++) U ist universell für Σ0α(𝒳).
Beweis von (++)
Sei Y ∈ Σ0α(𝒳). Dann existieren Yn ∈ Π0αn(𝒳), n ∈ ℕ, mit
Y = ⋃n ∈ ℕ Yn.
Wegen der Universalität der Un existieren weiter fn ∈ 𝒞 mit
Yn = Unfn = { x | (x, fn) ∈ Un } für alle n ∈ ℕ.
Sei f das Element von 𝒞 mit f(π(n, m)) = fn(m) für alle n, m ∈ ℕ.
Dann gilt f n = fn für alle n ∈ ℕ, und damit ist
Y = { x | x ∈ Yn für ein n ∈ ℕ } = { x | (x, f n) ∈ Un für ein n ∈ ℕ } = Uf.
Nach (+) und (++) ist U ∈ Σ0α(𝒳 × 𝒞) universell für Σ0α(𝒳).
Weiter ist dann wieder X × 𝒞 − U ∈ Π0α(𝒳 × 𝒞) universell für Π0α(𝒳).
Aus der Existenz gleichgradig komplexer universeller Mengen folgt nun durch eine einfache Diagonalisierung, dass an jeder Stufe der Borel-Hierarchie neue Mengen erzeugt werden. Wir zeigen dies zuerst für 𝒞 und dann durch eine Relativierung für allgemeinere Räume.
Satz (Diagonalisierung universeller Mengen)
Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein metrisierbarer Raum.
Sei 1 ≤ α < ω1, und U ∈ Σ0α(𝒳 × 𝒳) sei universell für Σ0α(𝒳). Wir setzen:
D = { x ∈ X | (x, x) ∈ U }.
Dann gilt D ∈ Σ0α(𝒳) und D ∉ Π0α(𝒳).
Beweis
zu D ∈ Σ0α(𝒳):
Sei g(x) = (x, x) für alle x ∈ X.
Dann ist g : X → X × X stetig, und es gilt D = g−1″ U.
Wegen U ∈ Σ0α(𝒳 × 𝒳) ist also auch D ∈ Σ0α(𝒳).
zu D ∉ Π0α(𝒳):
Andernfalls ist X − D ∈ Σ0α(𝒳).
Wegen der Universalität von U existiert dann ein y ∈ X mit
X − D = Uy = { x ∈ X | (x, y) ∈ U }.
Dann gilt aber:
y ∈ D gdw (y, y) ∈ U gdw y ∈ Uy gdw y ∈ X − D, Widerspruch.
Korollar (echte Inklusionen in der Borel-Hierarchie)
Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein metrisierbarer Raum, der eine Kopie von 𝒞 enthält.
Dann gilt für alle 1 ≤ α < ω1:
(i) | Σ0α(𝒳) ≠ Π0α(𝒳), |
(ii) | Δ0α(𝒳) ⊂ Σ0α(𝒳), Π0α(𝒳), |
(iii) | Σ0α(𝒳), Π0α(𝒳) ⊂ Δ0α + 1(𝒳). |
Alle überabzählbaren polnischen Räume und alle Folgenräume ℕA mit |A| ≥ 2 sind Beispiele für Räume, die eine Kopie des Cantorraumes enthalten.
Beweis
zu (i): Der Einfachheit halber nehmen wir o. E. 𝒞 ⊆ X an.
Sei 2 ≤ α < ω1. Dann gilt wegen 𝒞 abgeschlossen in 𝒳:
(+) Σ0α(𝒞) = Σ0α(𝒳)|𝒞 und Π0α(𝒞) = Π0α(𝒳)|𝒞.
Aber nach den beiden vorherigen Sätzen ist Σ0α(𝒞) ≠ Π0α(𝒞).
Insbesondere ist also auch Σ0α(𝒳) ≠ Π0α(𝒳).
Schließlich ist Σ01(𝒳) ≠ Π01(𝒳), da sonst 𝒞 offen und abgeschlossen in 𝒳 wäre und dann (+) (und folglich Σ01(𝒳) ≠ Π01(𝒳)) für α = 1 gelten würde.
zu (ii) und (iii): „⊆“ in den Aussagen ist klar.
Aus (i) folgt aber wegen Σ0α(𝒳) = Π0α(𝒳)c, dass Σ0α(𝒳) und Π0α(𝒳) verschieden sind von allen Γ ⊆ ℘(X) mit Γc = Γ.
Aber es gilt Δ0β(𝒳)c = Δ0β(𝒳) für alle 1 ≤ β < ω1.
Schließlich gilt auch folgende echte Inklusion an den Limesstellen der Borel-Hierarchie:
Übung
Sei 𝒳 ein metrisierbarer Raum, der eine Kopie von 𝒞 enthält.
Dann gilt für alle Limesordinalzahlen λ < ω1:
⋃1 ≤ α < λ Σ0α(𝒳) = ⋃1 ≤ α < λ Π0α(𝒳) ⊂ Δ0λ(𝒳).
Damit ergibt sich für einen metrisierbaren Raum 𝒳 das folgende Bild für die Mengen Σ0α(𝒳), Π0α(𝒳) und Δ0α(𝒳), wobei wir 𝒳 weglassen:
α durchläuft alle abzählbaren Ordinalzahlen. Mengen, die in diesem Diagramm weiter links stehen, sind in allen Mengen, die weiter rechts stehen, enthalten. Enthält 𝒳 eine Kopie des Cantorraumes, so sind alle Inklusionen echt. Die Vereinigung der Mengen des Diagramms bildet die Borel-σ-Algebra ℬ(𝒳).
Die Baire-Hierarchie
Wir diskutieren noch eine natürliche Hierarchie der Länge ω1 für reellwertige Funktionen, die Baire bereits 1899 eingeführt hat.
Definition (Baire-Hierarchie)
Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein metrisierbarer Raum.
Dann definieren wir durch Rekursion über α < ω1:
Baire0(𝒳, ℝ) | = { f | f : X → ℝ ist stetig }, |
Baireα(𝒳, ℝ) | = { f | f ist der punktweise Limes einer Folge 〈 fn | n ∈ ℕ 〉 mit fn ∈ ⋃β < α Baireβ(𝒳, ℝ) für alle n ∈ ℕ } für 1 ≤ α < ω1. |
Die Folge 〈 Baireα(𝒳, ℝ) | α < ω1 〉 heißt die Baire-Hierarchie von 𝒳 (bzgl. ℝ).
Wir setzen weiter:
Baireω1(𝒳, ℝ) = Baire(𝒳, ℝ) = ⋃α < ω1 Baireα(𝒳, ℝ).
Die Menge Baireω1(𝒳, ℝ) ist abgeschlossen unter punktweisen Limiten. Zur Reichhaltigkeit der Funktionenmengen dieser Hierarchie beobachten wir:
Satz
Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein metrisierbarer Raum, und sei α ≤ ω1.
Dann ist Baireα(𝒳, ℝ) ein Untervektorraum des reellen Vektorraumes V = { f | f : X → ℝ }.
Beweis
Wir zeigen die Aussage durch Induktion nach α < ω1.
Hieraus folgt dann die Behauptung über Baireω1(𝒳, ℝ).
Induktionsanfang α = 0:
Bekanntlich sind die stetigen Funktionen von X nach ℝ ein Untervektorraum von V.
Induktionsschritt 1 ≤ α < ω1:
Seien f, g ∈ Baireα(𝒳), und seien fn, gn ∈ ⋃β < α Baireβ(𝒳, ℝ) für alle n ∈ ℕ mit
f = limn → ∞ fn, g = limn → ℕ gn (punktweise).
Dann gilt für alle λ, μ ∈ ℝ:
λ f + μ g = limn → ∞ (λ fn + μ gn) (punktweise).
Also ist λ f + μ g ∈ Baireα(𝒳).
Die Baire-Hierarchie stellt sich nun als eine Organisation einer Funktionenmenge heraus, die in der heutigen Mathematik an vielen Stellen eine Rolle spielt:
Definition (𝒜-messbare und Borel-messbare Funktionen)
Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein metrisierbarer Raum, und sei 𝒜 ⊆ ℘(X).
Eine Funktion f : X → ℝ heißt 𝒜-messbar, falls gilt:
f −1″ U ∈ 𝒜 für alle U ∈ 𝒰.
f heißt Borel-messbar, falls f ℬ(𝒳)-messbar ist. Wir setzen:
ℬ(𝒳, ℝ) = { f : X → ℝ | f ist Borel-messbar }.
Übung
Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein metrisierbarer Raum, und sei f : X → ℝ Borel-messbar.
Dann existiert ein α < ω1 mit: f ist Σ0α-messbar.
[ Sei Un, n ∈ ℕ, eine Basis der Topologie auf ℝ. Für n ∈ ℕ sei
αn = „das kleinste α mit f −1″ Un ∈ Σ0α(𝒳)“.
Sei weiter α* = supn ∈ ℕ αn. Dann ist α* < ω1 und f ist Σ0α*(𝒳)-messbar:
Denn sei N ⊆ ℕ und U = ⋃n ∈ N Un. Σ0α*(𝒳) ist abgeschlossen unter abzählbaren Vereinigungen und folglich ist f −1″ U = ⋃n ∈ ℕ f −1″ Un ∈ Σ0α*(𝒳). ]
Die Stetigkeit von f : X → ℝ ist gleichwertig zur Σ01-Messbarkeit. Die Abschwächung dieser Bedingung zur Borel-Messbarkeit entspricht nun genau der Abschwächung der Stetigkeit durch iterierte punktweise Limesbildung:
Satz (Ausschöpfung der Borel-messbaren Funktionen durch die Baire-Hierarchie)
Sei 𝒳 = 〈 X, 𝒰 〉 ein metrisierbarer Raum.
Dann gilt ℬ(𝒳, ℝ) = Baire(𝒳, ℝ).
Beweis
zu ⊆: Wir zeigen zunächst durch Induktion nach 1 ≤ α < ω1:
(+) Für alle A ∈ Σ0α(𝒳) ∪ Π0α(𝒳) ist indA ∈ Baireα(𝒳, ℝ).
Induktionsanfang α = 1, A ∈ Σ01(𝒳)
Sei also A ⊆ X offen. Seien An, n ∈ ℕ, abgeschlossen mit
A = ⋃n ∈ ℕ An, A0 ⊆ A1 ⊆ … ⊆ An ⊆ …
Für n ∈ ℕ sei fn : X → [ 0, 1 ] eine stetige Funktion mit:
(Solche fn existieren nach dem Ausdehnungssatz von Urysohn.)
Dann gilt indA = limn → ∞ fn ∈ Baire1(𝒳, ℝ).
Induktionsschritt 1 ≤ α < ω1, A ∈ Π0α(𝒳)
Nach I. V. für Σ0α(𝒳) ist indX − A ∈ Baireα(𝒳, ℝ). Dann ist aber auch
indA = indX − indX − A ∈ Baireα(𝒳, ℝ),
da indX ∈ Baireα(𝒳, ℝ) und Baireα(𝒳, ℝ) ein Vektorraum ist.
Induktionsschritt 2 ≤ α < ω1, A ∈ Σ0α(𝒳)
Seien αn < α und An ∈ Π0αn(𝒳) für n ∈ ℕ paarweise disjunkt derart, dass α0 ≤ α1 ≤ … ≤ αn ≤ …, n ∈ ℕ, und A = ⋃n ∈ ℕ An. Sei
fn = ∑i ≤ n indAi für n ∈ ℕ.
Nach I.V. ist fn ∈ Baireαn(𝒳, ℝ) für alle n ∈ ℕ. Dann ist aber
indA = limn → ∞ fn ∈ Baireα(𝒳, ℝ).
Sei nun f : X → ℝ Borel-messbar. Für n ∈ ℕ und i ∈ ℤ sei
An, i | = f −1″ [ i/2n, (i + 1)/2n [, |
fn | = ∑− n · 2n ≤ i < n · 2n i/2n indAn, i. |
Nach (+) ist indAn, i ∈ Baire(𝒳, ℝ) für alle n ∈ ℕ.
Also gilt f = limn → ∞ fn ∈ Baire(𝒳, ℝ).
zu ⊇: Es ist leicht zu sehen, dass die Borel-messbaren Funktionen abgeschlossen unter punktweisen Limiten sind.
Weiter ist jede stetige Funktion Borel-messbar.
Damit folgt induktiv, dass Baireα(𝒳, ℝ) ⊆ ℬ(X, ℝ) für alle α < ω1.
Der Beweis zeigt de facto: Ist f : X → ℝ Σ0α(𝒳)-messbar, so ist f ∈ Baireα + 1(𝒳, ℝ). Man kann den Index verbessern und auch eine Umkehrung zeigen. Es gilt nämlich folgender Satz von Hausdorff: Für alle α ≥ 1 ist ein f : X → ℝ genau dann Σ0α + 1(𝒳)-messbar, wenn f ∈ Baireα(𝒳, ℝ) (die Äquivalenz erweitert den offensichtlichen Fall α = 0). Siehe etwa [ Kechris 1994 ] für einen Beweis.