2. Natürliche, ganze und rationale Zahlen
Wir skizzieren den mengentheoretischen Aufbau des Zahlensystems bis hin zum angeordneten Körper der rationalen Zahlen. Die beiden klassischen Konstruktionen der reellen Zahlen nach Cantor und Dedekind (und anderen) werden in Kapitel 1. 3 kurz vorgestellt. Der Leser findet dort auch eine ausführliche neuere Konstruktion des (bis auf Isomorphie eindeutig bestimmten) Körpers der reellen Zahlen 〈 ℝ, +. ·, < 〉.
Wir verweisen den Leser auf den Artikel [ Mainzer 1988 ] sowie etwa auf die Bücher [ Gericke 1970 ] und [ Oberschelp 1968 ] für weitere Details der Geschichte und der mathematischen Konstruktion. Relevante Literaturhinweise finden sich auch in Kapitel 1. 3.
Von der leeren Menge zu den natürlichen Zahlen
In der Mengenlehre definiert man:
0 = ∅, 1 = 0 ∪ { 0 }, 2 = 1 ∪ { 1 },
allgemein n + 1 = n ∪ { n }. Es gilt etwa 2 = { { }, { { } } }. Von den optisch wie geistig verwirrenden Verschachtelungen der das Nichts umschließenden Mengenklammern wird man durch die Beobachtung erlöst, dass n + 1 = { 0, 1, …, n } gilt; dass also unter dieser Definition eine natürliche Zahl einfach als die Menge ihrer Vorgänger festgelegt wird. Die Methode ist elegant, natürlich, und innerhalb der Mengenlehre auch als kanonisch zu bezeichnen. Keineswegs wird ein ontologischer Anspruch verfolgt, so etwas wie „das Wesen der Zwei“ ergründen zu wollen.
Technisch gelangt man zur unendlichen Menge ℕ der natürlichen Zahlen wie folgt. Man fordert zunächst per Axiom die Existenz einer induktiven Menge. Dabei heißt eine Menge M induktiv, falls ∅ ∈ M und für alle y ∈ M gilt, dass y ∪ { y } ∈ M.
Ist nun M eine beliebige induktive Menge, so setzt man
ℕ = ⋂ { N ⊆ M | N ist induktiv }.
Man zeigt dann, dass ℕ nicht von der Wahl von M abhängt.
Bemerkenswert ist, dass ℕ als Schnitt „von oben“ erhalten wird, als die ⊆-kleinste induktive Menge. Können wir sicher sein, lediglich die intuitive Reihe 0, 1, 2, 3, … zu erhalten und nicht mehr, einen unerwünschten unendlichen „Drachenschwanz“, der allen induktiven Mengen zu Eigen ist? In der mathematischen Logik kann man stabile Szenarien (widerspruchsfreie Modelle für die Mathematik) untersuchen, bei denen die kleinste induktive Menge nicht die vertraute Struktur ℕ ist, sondern ein sog. Nichtstandardmodell der Arithmetik, das unendlich große natürliche Zahlen enthält. Das Szenario garantiert, dass diese unendlich großen natürlichen Zahlen sich genauso verhalten wie die üblichen, dass also ein Zahlentheoretiker in einer solchen Welt keine Möglichkeit hat zu bemerken, dass er nicht das untersucht, was sein Kollege in einem Paralleluniversum untersucht, der das Standardmodell betrachtet. Wir können insgesamt nicht sicher sein, die intuitive Reihe 0, 1, 2, 3, … − und nicht mehr − durch den Schnitt von oben zu erhalten.
Eine Stufe tiefer kann man dann fragen: Was soll die intuitive Reihe 0, 1, 2, 3, … eigentlich genau sein? Was bedeuten die Pünktchen? Diese Überlegungen involvieren die Sätze von Gödel und weiter dann eine spekulative Sicht auf ℕ, die die gefühlte Eindeutigkeit der Grundstruktur der Mathematik schlechthin antastet, ohne dabei den Unendlichkeitsbegriff preiszugeben. Wir müssen es hier also bei dem hoffentlich nicht belehrenden Hinweis belassen, dass die mengentheoretische Definition von ℕ subtiler ist, als sie aussieht. Der Leser sei zur Einführung in diesen Gesichtspunkt auf die Literatur zur mathematischen Logik verwiesen.
Hat man die Menge ℕ definiert, so zeigt man die Induktion für ℕ, d.h. man zeigt, dass für alle N ⊆ ℕ gilt: Ist 0 ∈ N und ist mit jedem n auch der Nachfolger S(n) := n ∪ { n } ∈ N, so gilt N = ℕ. (Innerhalb der Mengenlehre ist das Induktionsprinzip ein beweisbarer Satz und kein Axiom für die natürlichen Zahlen.) Nun kann man, weiterhin in einem flexiblen mengentheoretischen Umfeld arbeitend, das rekursive Definitionen über ℕ erlaubt, leicht die arithmetischen Operationen einführen. So definiert man etwa die Addition m + n mit Hilfe von Rekursion nach dem zweiten Argument durch die Rekursionsgleichung m + 0 = m, m + S(n) = S(m + n), wobei die Nachfolgerfunktion S : ℕ → ℕ definiert ist durch S(n) = n ∪ { n } für alle n ∈ ℕ. Man zeigt dann mühevoll, dass etwa m + n = n + m für alle n, m ∈ ℕ gilt. Ähnlich definiert man die Multiplikation rekursiv via m · 0 = 0, m · S(n) = m · n + m, wobei hier dann schon von der Addition Gebrauch gemacht wird. Man zeigt elementare Eigenschaften der Produktbildung und konkretisiert ihr Zusammenspiel mit der Addition durch den Nachweis der Distributivgesetze. Das alles darf mit den mathematischen Marginalia „lang aber klar“ oder „easy but tedious“ versehen werden. Die übliche totale Ordnung auf ℕ ist dagegen bei diesem Vorgehen besonders einfach und elegant zu definieren: Man setzt n < m, falls n ∈ m. Gleichwertig und von Feinheiten der Konstruktion unabhängig kann man definieren: n < m, falls ein k ≠ 0 existiert mit n + k = m.
Insgesamt gelangt man zu einer Struktur 〈 ℕ, +, ·, S, 0, < 〉. Die Liste der zu ℕ gehörigen Funktionen, Prädikate und Konstanten kann dann nach Wunsch erweitert werden, etwa durch die Exponentiationsfunktion oder ein Prädikat P der Menge aller Primzahlen.
Von den natürlichen Zahlen zu den rationalen Zahlen
Ist man nur an der charakteristischen Ordnung < auf den rationalen Zahlen interessiert, so genügt es nach dem Charakterisierungssatz von Cantor, eine einzige dichte lineare Ordnung ohne Endpunkte auf einer abzählbaren Menge Q zu konstruieren. Dies ist leicht möglich. Sei nämlich
Q = { f : ℕ → { 0, 1 } | f (n) = 1 für höchstens endlich viele n ∈ ℕ } − { f0 },
wobei f0 : ℕ → { 0, 1 } die Nullfunktion auf ℕ ist, d. h. es gilt f0(n) = 0 für alle n ∈ ℕ.
Wir ordnen Q lexikographisch, d. h. wir setzen für f, g ∈ Q:
f < g, falls f ≠ g und f (n*) < g(n*), wobei n* = min({ n ∈ ℕ | f (n) ≠ g(n) }).
Dann ist 〈 Q, < 〉 eine abzählbare dichte lineare Ordnung ohne Endpunkte, also vom rein ordnungstheoretischen Gesichtspunkt als Menge der rationalen Zahlen geeignet. (f0 wird ausgeschlossen, damit die Ordnung kein kleinstes Element besitzt.)
Zur Gewinnung der üblichen arithmetischen Struktur 〈 ℚ, +, · 〉 kann man wie folgt vorgehen. Sei ℕ+ = ℕ − { 0 }. Man verschafft sich zunächst die ganzen Zahlen 〈 ℤ, +, ·, 0, 1 〉. Als Trägermenge ℤ dieser Struktur ist ℕ ∪ ({ − } × ℕ+) geeignet, wobei „−“ ein geeignetes Symbol (eine weitgehend beliebige Menge) für das Minuszeichen ist, und die Addition wie üblich definiert wird. Algebraisch elegant lässt sich ℤ so einführen: Man setzt ℤ = ℕ2/∼, wobei (n, m) ∼ (n′, m′), falls n + m′ = n′ + m. Die Idee (und Folge) ist n − m = (n, m)/∼, speziell also − n = 0 − n = (0, n)/∼, und n = n − 0 = (n, 0)/∼ für alle n ∈ ℕ. Dieses Vorgehen führt allgemein von einer kommutativen Halbgruppe mit Kürzungsregel zur bis auf Isomorphie eindeutigen Quotientengruppe, in der jedes Element sich als die Differenz zweier Elemente der Halbgruppe schreiben lässt.
Die Addition, Multiplikation und die Ordnung auf ℤ zu definieren bereitet keine Schwierigkeiten. Man setzt nun ℚ = (ℤ × ℤ+)/∼, wobei (a, b) ∼ (c, d), falls a · d = c · b. Man schreibt dann wie üblich a/b für die Äquivalenzklasse (a, b)/∼, und definiert die Operationen + und · auf ℚ durch a/b + c/d = (ad + cb)/(bd) und a/b · c/d = (a · c)/(b · d). Bis zur Erschöpfung des gewissenhaft Konstruierenden ist dabei immer die Wohldefiniertheit der Operationen zu zeigen, da wir ja mit Repräsentanten von Äquivalenzklassen arbeiten. 〈 ℚ, +, · 〉 erweist sich letztendlich aber als wohldefinierter angeordneter Körper, wobei die Ordnung < auf ℚ gegeben wird durch a/b < c/d, falls a · d <ℤ c · b, wobei o. E. gilt, dass b, d > 0. Alternativ kann man die Ordnung für alle a/b, c/d ∈ ℚ so definieren: a/b < c/d, falls a · b · d2 <ℤ c · d · b2.