Vorwort

Zwei große Häuser, gleich an Rang, gibt es in der Mathematik: Die natürlichen Zahlen  und die reellen Zahlen . Die Geschichte der Mathematik lässt sich im Lichte des Wechselspiels dieser beiden Strukturen, ihrer gegenseitigen Befruchtung und Bekämpfung, vorübergehenden Vorherrschaft übereinander, ihrer Triumphzüge und Niederlagen, und schließlich ihrer großen Synthesen erzählen. Man darf hier die nietzscheanische Unterscheidung zwischen apollinisch und dionysisch bemühen: Die Strenge und Schönheit der natürlichen Zahlen, die, von der Mittagssonne beschienen so klar und greifbar ausgebreitet vor uns liegen wie kein anderer Gegenstand der Mathematik; und dagegen der unerschöpfliche Reichtum der reellen Zahlen, ihre faszinierende Magie, ihre unermessliche Kraft, ihre imposanten Gipfel gleich neben den Abgründen ins Ungewisse − sie sind stets treu zu Diensten und bleiben doch immer unbeherrschbar.

 Sind die natürlichen Zahlen das schönste, so sind die reellen Zahlen das rätselhafteste Konstrukt der Mathematik. Es erscheint dabei zunächst lediglich als ein kräftiger Pflug (um nicht zu sagen: als ein harmloser Ochse), mit dem wir die naturwissenschaftlichen Felder bestellen, ganz auf reichen Ertrag ausgehend und die typischen landwirtschaftlichen Mühen und Befriedigungen erfahrend. Die reellen Zahlen scheinen nach all den Folgen und Reihen, all den gelösten und ungelöst gebliebenen gewöhnlichen und ungewöhnlichen Differentialgleichungen, all den fehler- und fehleranalysefrei implementierten numerischen Verfahren sehr vertraut zu sein; doch sobald wir versuchen, sie zu erfassen anstatt mit ihnen zu pflügen, so beginnen sie sich zu entziehen, indem sie fortwährend nicht nur schwierige, sondern zutiefst irritierende Fragen aufwerfen. Für die natürlichen Zahlen gilt dies sicher nicht in dieser Form: Hier wird mehr und mehr innere Struktur und selbstgenügsame Harmonie entdeckt, während der arithmetische Turm selber, gebildet aus den Stockwerken 0, 1, 2, 3, … immer gleich zu bleiben scheint und felsenfest vor uns emporwächst. Mit Ausnahme der Null, die als Erdgeschoss mit ausgegraben wurde, ist das heute vor uns stehende Gebäude  das gleiche wie dasjenige der grauen mathematischen Vorzeit. Die Geschichte von  dagegen ist durch schwere Meteoriteneinschläge bestimmt, die zeigen, dass es in unserem geistigen Universum viel mehr Objekte gibt als man zunächst vermuten würde. Beim längeren Nachdenken über die reellen Zahlen kann es sich dann auch ereignen, dass man nicht mehr genau weiß, was man da eigentlich untersucht, und es können sogar Zweifel an so etwas wie der Möglichkeit einer wohldefinierten Struktur  der reellen Zahlen aufkommen. (Dass der Turmbau  ein babylonisches Unterfangen sein könnte, ist ein legitimes Gedankenexperiment und Katastrophenszenario der mathematischen Logik.) Den dunklen dionysischen Charakter der reellen Zahlen erfährt jeder, der sich auf das Abenteuer einlässt, sie fassen zu wollen, sie ins apollinische Licht zu ziehen, um ihrer nächtlich-magischen Natur auf den Grund zu kommen. Nah ist und schwer zu fassen der Gott Dionysos, und das Gleiche gilt, im Bild bleibend, auch für die reellen Zahlen.

 Wir werden in diesem Buch einige Ansätze beschreiben, die unternommen worden sind, den Geheimnissen der reellen Zahlen auf die Spur zu kommen. Die Themen sind vielfältig, aber durch grundlagentheoretische Fragen und Interessen bestimmt. Der behandelte Stoff ist nicht immer elementar, aber doch immer nur als Einführung in einen größeren Gegenstand zu sehen. Zu vielen tieferen Resultaten der jüngeren Zeit werden wir nicht vordringen. Es geht zuallererst darum, einige der bei der hochauflösenden mikroskopischen Untersuchung von  auftretenden Phänomene zu schildern und charakteristische Bilder mit dem Bleistift auf Papier zu übertragen. Unser Mikroskop ist lichtstark und vielseitig, aber doch eine klassische Optik in dem Sinne, dass wir die Rastermethoden der mathematischen Logik nicht verwenden werden. Wir werden die Möglichkeiten dieser ganz anderen Technik hin und wieder andeuten. Sie kann vieles und erweitert das mathematische Weltbild, aber sie kann den klassischen Ansatz keineswegs ersetzen, inhaltlich nicht und auch nicht didaktisch.

 Weit genug gefasst meint „Reelle Zahlen“ vielleicht die Hälfte der Mathematik, und auch bei engerer Eingrenzung auf fundamentale Gesichtspunkte gilt hier der Lieblingsspruch des Vaters von Effi Briest: „Das ist ein zu weites Feld.“ Der Autor beruft sich deshalb auf eine seiner beiden Grundfreiheiten, nämlich der Freiheit der Stoffwahl − neben der des Stils. Das Buch versteht sich insgesamt als eine von vielen möglichen Interpretationen seines Titels, und nicht der Titel als das Epigramm seines Buches.

 Das Buch beginnt aus ästhetischen und sachlichen Gründen bei den Griechen, springt dann relativ rasch mitten ins 19. Jahrhundert, und kommt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur inneren Ruhe, ohne sich Ausblicken zu verschließen. Einen Überblick über die behandelten Themen findet der Leser gleich nach der Einführung. Die klassische Analysis und ihr Bündnis mit der physikalischen Naturbeschreibung ist das Thema vieler Darstellungen, nicht aber der vorliegenden. Lediglich in der Zeittafel im Intermezzo des ersten Abschnitts sind die Meilensteine der Analysis aufgenommen, bilden sie doch einen gewaltigen Akt in der Geschichte von .

 Auch außerhalb des mathematischen Rechnens − in einem weiten Sinne, der jede Form der Analysis mit einschließt − ist das reelle Feld weit und seine Bäume reich an Früchten. Dies wird zuweilen durch die Wegführung der mathematischen Ausbildung nicht so recht deutlich. Das Gebiet dort draußen hat eine enorme Fläche und das überstrapazierte Bild von den Rand- und Grenzfragen ist deswegen nur bedingt richtig. Wer sich mit den Grundlagenfragen von  auseinandersetzt, ist keineswegs ein König in einer Nussschale, der sich einen Herren unendlicher Weiten nennt, sondern ein Wanderer im Grenzenlosen, der eine Menge harter Nüsse vorfindet.

 Die zwölf Kapitel dieses Buches wollen anregen, unterrichten im Sinne von „Kunde geben“. Sie erlauben sich Ausführlichkeit und Abschweifung an der einen und Kürze und Skizzenhaftigkeit an der anderen Stelle, und weiter ihren eigenen Charakter und Komplexitätsgrad. Zusammen genommen wollen sie sich zu einem runden Ganzen fügen und anspruchsvolle Mathematik anregend vorstellen. Ziel ist, dem Leser einen bleibenden begrifflichen Eindruck zu vermitteln. Die reellen Zahlen sind mehr als die Magd der Integral- und Differentialrechnung. Sie verdienen es, verstanden und nicht nur kunstvoll verwendet zu werden. Das ist, wenn man so will, die Botschaft.

 Das Buch ist geschrieben für alle Leser mit Interesse und Verstand. Es orientiert sich nicht in erster Linie an der Struktur der derzeitigen Universitätsausbildung, und es wurde kein Text angestrebt, der auf die Bedürfnisse einer vierstündigen Vorlesung zugeschnitten wäre. Der Autor hofft, mit dem Buch einer breiten Zahl von Studenten der mathematischen Fächer einen studienbegleitenden Text anzubieten, der vom ersten Semester an gelesen werden kann. Das Buch mag sich weiter für Seminare eignen und bei Kollegen an Schulen und Hochschulen auf Interesse stoßen. Der Laie schließlich ist nicht selten ein gebildeter, neugieriger, breit interessierter und damit idealer Leser. Ohne begleitende Literatur und ein gewisses mathematisches Vorwissen werden einige Inhalte aber eine etwas harte Kost sein. Wissenschaftliche Literatur ist im Gegensatz zum Kriminalroman aber auch in Teilen genossen eine sinnvolle Sache. Vollständig auflösen können wird man das große Geheimnis in keinem Fall.

 Tiefergehende Vorkenntnisse werden nicht erwartet, einige Kapitel sind weitgehend elementar, andere setzen mathematisches Grundwissen aus der Analysis, der linearen Algebra und der Topologie dezent ein. Alles andere stellt der Text zur Verfügung. Im Vorspann Vokabular finden sich Zusammenstellungen der wichtigsten verwendeten Begriffe und Notationen. Der Anhang enthält Grundlagen der mengentheoretischen Axiomatik, des Zahlensystems, der algebraischen Strukturen und der Topologie sowie eine rekursive auf Mengenverbänden basierte Konstruktion von Maßen. Dieses Material wird nicht von Beginn an verwendet, und der mit diesen Dingen noch nicht vertraute Leser ist aufgerufen, die trocken gelisteten Definitionen anhand von zusätzlicher Literatur zum Leben zu erwecken. Der Autor hofft andererseits, einen mit mathematischem Grundwissen ausgerüsteten Leser an alles erinnert zu haben, was gebraucht wird.

 Im zweiten Teil des Buches wird die Verwendung der transfiniten Technologie schließlich unvermeidlich. Wir geben in einem Intermezzo eine knappe Darstellung des Nötigsten, auch wenn durch diese Kürze die Gefahr besteht, dass der transfinite Limesschritt unheimlich bleibt. Es wäre hier nicht der Ort, eine umfangreiche Einführung in die transfinite Mengenlehre zu geben.

 Der kompakte Beweisstil integriert aktive Mitarbeit des Lesers, namentlich bei den zuweilen auftauchenden „(!)“, bei denen ein kleines Argument selbst gedacht werden muss, und bei der erwarteten Ausarbeitung einiger nur skizzierter Beweise und Aspekte der Theorie. Mitmachen macht Mathematik lebendig. Viele Mathematiker nehmen keinen mathematischen Text in die Hand, ohne sich mit Papier und Bleistift für das Abenteuer zu rüsten.

München, im März 2021

 Oliver Deiser